Umherschweifende Hirne

Zwei arme Seelen, die verloren in einem Aquarium herumirren und die man dabei besser auch gar nicht erst stört: Leander Scholz’ kopfloser und alles andere als sorgfältig komponierter neuer Roman „Fünfzehn falsche Sekunden“

Einen „würdigen Anfang“ verspricht das erste Kapitel von Leander Scholz’ neuem Roman „Fünfzehn falsche Sekunden“. Das geht so: Celeste, eine deutsche Austauschstudentin in San Francisco, macht mit ihrem Nachbarn Christopher einen Ausflug in die Wüste. Sie finden eine heiße Quelle, wo sich unbekannte Insekten auf sie stürzen. Die zerstochene Ich-Erzählerin gerät in Panik, ihr Begleiter sucht Schutz im heißen Wasser.

Leander Scholz, der 2001 mit „Rosenfest“, einer gezielten Banalisierung des RAF-Mythos, auf sich aufmerksam machte, eröffnet seinen neuen Roman mit einer Szene wie aus einem Horrorfilm. Nur hat die mit der folgenden Geschichte nicht viel zu tun, außer dass seine plappernde Protagonistin noch mehrmals gegen ihre Angst kämpfen und selbst ins symbolträchtige Wasser steigen wird, wahlweise in Taufbecken oder Badewannen. So betritt die verliebte Celeste auf der Suche nach ihrem plötzlich verschwundenen Nachbarn dessen Wohnung und genehmigt sich dort, warum auch nicht, ein ausgiebiges Bad. In ebendieser Wanne findet sich Celeste, die „dem Himmel Geweihte“, wie ihr Name verrät, auch Tage später wieder, nachdem sie ohne ihr Wissen Teil eines medizinischen Experiments wurde: Um das Leben des unheilbar kranken Christopher zu retten, hat man sie als Spenderin für eine Gehirntransplantation ausgewählt.

Dazwischen passiert in etwa dieses: Nicht nur Celeste sucht Christopher, sondern angeblich auch sein Halbbruder, ein gewisser Kornweil, Chef eines dubiosen Medizinunternehmens namens „Paradise Engineering“. Kornweil behauptet, nur Celeste könne aufgrund ihrer emotionalen Bindung den Verschwundenen finden. Auf ihrer Suche findet Celeste rätselhafte Hinweise, etwa ein Poster von einem Wohnwagen im Wald. Oder eine Quittung über den Kauf von Medikamenten, Antidepressiva und -epileptika, die sie, als Kornweil und andere sie ihr prompt anbieten, sogleich willig schluckt. Ach ja, im Kühlschrank ihrer von Unbekannten leer geräumten Wohnung entdeckt Celeste unter einer Glasschüssel noch ein herrenloses Gehirn.

Wie es sich für Suchen dieser Art gehört, begegnen ihr allerlei seltsame Gestalten, vor allem aber erlebt Celeste immer wieder unheimliche Zustände, deren Beschreibung noch das Beste sind, was dieser Roman zu bieten hat: Augenblicke, in denen die Zeit stillzustehen scheint und nur Celeste sich bewegen kann. Deplatzierte, wie von außen induzierte Emotionen und Wünsche. Begegnungen mit unsichtbaren Liebhabern, denen sie sich willig hingibt. Momente, in denen die Grenze von Innen- und Außenwelt, Subjekt und Objekt aufgehoben wirkt, etwa als Celeste das Gefühl hat, in ihrem Mund befinde sich eine fremde Zunge. Psychotische Zustände, Halluzinationen? Folgen der eingenommenen Psychopharmaka? Was von dem, was Celeste erlebt, ist überhaupt real? Der Klappentext souffliert, Celestes Bewusstsein werde – „eine Schreckensvision unserer Zeit“ – von anderen manipuliert. Aber wie? Hat man ihr eine Art ferngesteuerten Emotionschip ins Gehirn eingepflanzt? Oder schwimmt dieses längst im berühmten Tank und bekommt eine komplette Traumwelt vorgegaukelt?

„From a logical point of view“, singt ein Unbekannter höhnisch vor der Tür, als Celeste erstmals in der Wanne liegt. Doch wie auch immer man versucht, die Informationen, die die Ich-Erzählerin bekommt, zusammenzusetzen, stets bleiben Ungereimtheiten und Absurditäten.

Was an sich nicht gegen einen Text sprechen muss, wäre er dafür mit Geist und Sorgfalt komponiert. Und überzeugte aufgrund seiner sprachlichen Qualitäten. Scholz’ Roman bietet jedoch wenig mehr als ein albernes Gemisch aus Versatzstücken aus diversen Hollywoodfilmen, blinden Motiven, vorschnell gekappten Spannungsbögen, klischeehaften Dialogen und jeder Menge Pseudophilosophie.

Letztere lässt ahnen, was der Autor wollte. Um Angst und ihre Überwindung ging es ihm, um Schuldgefühle und, wie schon in seinen früheren Romanen, um ein Begehren nach narzisstischer Regression, bedingungsloser Hingabe und Verschmelzung mit dem anderen. „We’re just two last souls, swimming in a fish bowl“, zitiert Scholz Pink Floyd. Da sollte man besser nicht stören. OLIVER PFOHLMANN

Leander Scholz: „Fünfzehn falsche Sekunden“. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2005, 256 S., 19,90 €