Geschichte durch die Blume

Helga Schütz hat mit „Knietief im Paradies“ einen leisen, poetischen Roman über eine Kindheit in der Nachkriegszeit geschrieben

Alle Bewohner des Hauses in der Altenzeller Str. 41 kamen im Bombenhagel auf Dresden ums Leben. Nur die kleine Eli entkam, weil sie hinausrannte, als das Lametta vom Himmel regnete, mit dem die Alliierten die deutsche Fliegerabwehr irritierten. Sie tanzte den wirbelnden Silberstreifen hinterher, sammelte sie auf, um daraus eine Kugel zu formen, die immer größer werden sollte. Man darf sie sich als eine Art Sterntaler im Feuersturm vorstellen. So poetisch kann das Überleben sein.

Eli, die eigentlich Raphaela Reich heißt, ist die Heldin in Helga Schütz’ neuem Roman „Knietief im Paradies“. Es ist ein autobiografisch grundierter Kindheitsroman, der von 1945 bis in den Juni 1953 reicht, als eine Streikwelle die DDR erschütterte. Regelmäßig ist die 1937 im schlesischen Bober-Katzbach-Gebirge geborene Helga Schütz in ihren Erzählungen und Romanen in diese Zeit des Umbruchs und des Aufbaus zurückgekehrt. Kindheit sei ihr „schöpferischer Dauerzustand“, sagte sie einmal. Ausgangspunkt war immer wieder Dresden und – so im Roman „In Annas Namen“ von 1986 – die Bombennacht, nach der nichts mehr so war wie zuvor. Die Zerstörung der Stadt teilt das Land der Kindheitserinnerungen in ein Davor und ein Danach. Die Schülerin Eli, vielleicht dreizehn Jahre alt, spricht nun schon so, als blicke sie auf eine sehr ferne Vergangenheit zurück: „Die heile Welt meiner Kindheit war ein milchschöner, fotofarbener Tag. Ein Spätnachmittag, fast schon ein Abend.“

Eli wächst als Waise bei ihrem Großvater auf. Der Vater „blieb“ in Stalingrad, die Mutter geriet, als sie mit dem Zug noch ein paar Federbetten aus der schlesischen Heimat holen wollte, in einen Fliegerangriff und wird seither vermisst. Nach der Schule, die sie schnell absolviert, weil der Großvater sie um ein Jahr älter macht, als sie wirklich ist, beginnt Eli eine Gärtnerlehre, arbeitet also gewissermaßen an der Verschönerung einer Gesellschaft, die zunächst aus nichts als Trümmern zu bestehen scheint. „Dekorieren ist täuschen. Wie die Liebe in einem Gedicht“, heißt es, als Eli damit beschäftigt ist, im improvisierten Gerichtssaal mit Efeuranken einen Riss in der Wand zu verbergen, der sich ausgerechnet unter dem Marx-Engels-Lenin-Stalin-Heldenbild auftut.

Helga Schütz gelingt es, Geschichte wie nebenbei, gewissermaßen durch die Blume, sichtbar zu machen. Nichts drängt sich in den Vordergrund, aber man erlebt mit der Gummistiefelträgerin Eli, wie der „Lateiner“ in der Gärtnerei, ihr geschätzter Lehrer, als Anhänger der verfemten Mendel’schen Genetik verhaftet wird. Sie sieht die Folgen der Reparationen an die Sowjetunion, spürt die Konsequenzen der Normerhöhungen, ohne sich zu beklagen. Ihr Blick richtet sich auf die Menschen und auf die Pflanzen, mit denen sie zu tun hat. Sie genießt es, als Retterin aufzutreten. Einen jungen Mann, der in einem Kellerloch haust, versorgt sie jeden Tag mit Essen aus der Kantine und verliebt sich in ihn. Auch einen anderen Jungen, der nach blödsinnigen Ku-Klux-Klan-Spielchen im Wald von der DDR-Justiz ins Erziehungsheim gesteckt wird, beginnt sie zu lieben und verhilft ihm zur Flucht in den Westen. Ausschlaggebend ist nicht das Politische, sondern ihr Gefühl. „Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt“, lautet ihr nicht unbedingt kommunismuskompatibler Leitsatz.

„Knietief im Paradies“ ist ein leiser, poetischer Auftakt zum Gedenkmarathon des Jahres 2005, sechzig Jahre nach Kriegsende. Der Roman ist angenehm frei von allen ideologischen Verklemmtheiten, vom Ost-West-Lammento, von deutschem Opferjammer und überhaupt davon, irgend etwas beweisen zu wollen. Es war, wie es war, manchmal auch ein bisschen langweilig. „Der Mensch hat Erinnerungen. Die sammeln sich an wie Staub.“ Das ist ein Satz, den man allen Zeitzeugen in Guido-Knopp-haften History-Verschnitten einmal soufflieren müsste. Man begreift mehr von der Geschichte, wenn der Einzelne sich weniger wichtig nimmt. JÖRG MAGENAU

Helga Schütz: „Knietief im Paradies“. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2005, 176 S., 17,90 Euro