„Mit geschlossenen Augen hören“

In Christian Petzolds Wettbewerbsbeitrag „Gespenster“ sucht eine Mutter nach ihrer seit Jahren verschwundenen Tochter. Ein Gespräch mit dem Berliner Regisseur über Grimm’sche Märchen, Windgeräusche und das Weggehen vor der Kamera

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Herr Petzold, „Gespenster“ hat mit einem Märchen der Brüder Grimm namens „Das Totenhemdchen“ zu tun. Wie kam das?

Christian Petzold: Unter den Grimm’schen Märchen gibt es lauter kleinere, die ich selbst gar nicht kannte. Ich habe eine Ausgabe vom Insel-Verlag, eine dreibändige Kassette, und die habe ich nach und nach meiner Tochter vorgelesen. „Das Totenhemdchen“ kannte ich nicht. Ich war bestürzt, als ich es vorlas.

Weshalb?

Weil es ein brutales Märchen ist. Es geht um eine Mutter, die so sehr um ihr gestorbenes Kind trauert, dass es nicht in den Himmel auffahren kann. Deswegen kehrt es aus dem Grab zurück in das Haus der Mutter – im Totenhemdchen, befleckt mit der Erde des Grabes – und sagt: „Deine Trauer ist so stark, dass ich als Gespenst umhergehen muss. Hör bitte auf zu trauern, damit ich in den Himmel komme.“ Die Mutter kann nach drei Tagen von ihrer Trauer lassen, und das Kind verschwindet. Ich hatte dieses Märchen im Kopf, als ich in belgischen und nordfranzösischen Postämtern Phantombilder sah.

Das waren Fotos von verschwundenen Kindern?

Genau. Und zwar computerberechnete Bilder; die müssen von Eltern in Auftrag gegeben worden sein, die ihre Kinder seit Jahren vermissen. Vielleicht ist die Tochter jetzt 15, 17, vielleicht lebt sie ja noch, und wenn sie noch lebt, sähe sie wahrscheinlich so aus, wie es der Computer berechnet. Elterninitiativen haben diese Plakate geklebt, nicht die Polizei. Und da steckt natürlich etwas drin wie in dem Märchen der Brüder Grimm: Man kann die verschwundene Tochter nicht loslassen.

Die Figur der Françoise, der Mutter, sucht also nach einem Gespenst?

Ja, sie sucht nach der Materialisierung eines dieser Gespensterfotos. Ich hatte mir das ungefähr so vorgestellt: Man sieht dieses Computerbild, und die Person darauf hat keine soziale Alterung; es stecken keine Erlebnisse mehr in ihr. Ein Mädchen in Berlin …

Nina, die von Julia Hummer gespielte Hauptfigur des Filmes …

… muss dieses Computerbild leben. Und was wir im Film sehen, ist, wie sie sich sozialisiert, wie sie aus ihrer Gespensterblase heraustritt, sich verliebt und von einem anderen Mädchen in die Welt geführt wird.

Das Märchenhafte wird auch über den Schauplatz erzeugt. Der Tiergarten wirkt in „Gespenster“ wie ein verwunschener Wald.

Das Gebiet, wo wir im Tiergarten gefilmt haben, gehörte früher eigentlich zur DDR. Es war eine Art Niemandsland des Warschauer Paktes. Es gab dort zum Beispiel Wagenburgen, die sich dorthin zurückzogen, weil die westdeutsche Polizei dort nicht hineinkonnte. An diesen Stellen bekommt der Tiergarten etwas Verwunschenes. Er ist nicht richtig gepflegt, ein bisschen verwildert. Es gibt Trampelpfade, die nicht angelegt worden sind von Lenné oder irgendwelchen Gartenbauarchitekten. Das hat mir immer gefallen. Bei der Wahl des Bildausschnitts oder bei den Aufnahmen der Brücken und Wege haben wir außerdem dieses romantische deutsche Material eingearbeitet, das es zum Beispiel in Gemäldegalerien gibt.

Sie arbeiten mehrmals mit einer Einstellung auf eine Baumfront. Wie der Wind im Laub rauscht, hat zum einen etwas von Kracauers Wunsch nach der Errettung der äußeren Wirklichkeit. Andererseits hatte ich den Eindruck, dass diese Hervorhebung der Physis die äußere Wirklichkeit hinter sich lässt.

Das ging uns ganz genauso. In „Eureka“, einem japanischen Film von Shinji Aoyama, gab es auch so einen Wind. Der sorgte nicht nur dafür, dass plötzlich die Physis, das Antistudio zu sehen waren. Er war auch ein bisschen Atem der Geschichte, eine Art metaphysischer Wind. Das hat mir sehr gefallen. In „Blow Up“ geht der Fotograf durch London; an einer Stelle öffnet er eine ganz kleine Tür, geht noch eben um ein Haus herum, und dann öffnet sich vor ihm ein riesiger Park, und der Wind ist da. Und statt künstliche Windgeräusche einzufügen, haben wir im Tiergarten sehr viele Originaltöne aufgenommen. Wir haben versucht, den Ort zu hören.

Wie macht man das?

Normalerweise geht man im Vorfeld einer Produktion mit dem Kameramann die Motive ab. Ich habe immer darauf bestanden, dass auch der Tontechniker, Andreas Mücke, mitkommt. Manchmal standen wir einfach da, mit geschlossenen Augen – wir müssen wie Idioten ausgesehen haben – und haben gehört. Der Tiergarten hat eine Akustik, die ich noch nirgendwo auf der Welt vernommen habe. Die Stadt ist wahnsinnig nah und gleichzeitig wahnsinnig weit weg. Und irgendwie ist das Kino ja auch so etwas: ganz nah und gleichzeitig ganz weit weg.

Wie verhält sich denn im Film der Tiergarten zum Potsdamer Platz?

Als ich mit „Wolfsburg“ bei der Berlinale war, habe ich während der Premiere einen Spaziergang durch den Tiergarten gemacht. Ich bin immer so nervös bei Premieren und kann nicht im Publikum bleiben, weil mich jedes Hüsteln vollkommen fertig macht. Ich bin also in den Tiergarten rein, blieb irgendwo stehen, rauchte, drehte mich um und sah über den Baumwipfeln den Potsdamer Platz. Und plötzlich stand er da wie Angkor Wat. Er hatte gar nichts mehr von Stadt. Ich dachte: Was gibt es alles für Mythen um den Potsdamer Platz: der verkehrsreichste Platz der Welt, Weimarer Republik, Liza Minelli. Und jetzt steht Angkor Wat hier, als ob der Urwald sich den Platz schon fast wieder nehmen wollte. Wir steckten in dieser Zeit in den Vorbereitungen zu „Gespenster“, und eigentlich sollte der Film an der Woltersdorfer Schleuse spielen, in den alten UFA-Kulissen von „Das indische Grabmal“. Aber in dem Augenblick dachte ich: Das ist doch viel interessanter hier, noch viel aufgeladener.

Von den zeitgenössischen Mythen rund um den Potsdamer Platz, vom Hype um die neue Mitte Berlins oder von der Kritik daran ist im Film nichts zu spüren.

Man kann sich lustig machen über den Potsdamer Platz. Man kann wie Harald Schmidt sagen, er sehe aus, als seien die Ceaușescus kurz vor ihrem Tod noch mal zu Geld gekommen. Aber im Film darf man so einen Ort nicht vorführen, sondern sollte ihn ernst nehmen. Dann interessieren einen zum Beispiel die Übergänge und die Gänge, nicht der Ort als Kulisse.

Da Sie von den Gängen sprechen: Mir scheint, dass das Gehen eine große Rolle spielt. Gerade Julia Hummer ist immer wieder gehend zu sehen.

Das ist kein Zufall. „Der sichtbare Mensch“ von Béla Bálazs war eines meiner grundlegenden Filmbücher, und in einer seiner Filmkritiken beschreibt Bálazs einen Griffith-Film. Eine Frau bekommt die Nachricht, dass ihr Sohn ertrunken ist. Griffith zeigt ihre Reaktion nicht im Gesicht, obwohl die Darstellerin, Lillian Gish, ein Star war und jeder sie sehen wollte. Sie drehte sich stattdessen um und ging weg. Es gab noch kein Travelling, die Kamera konnte ihr nicht folgen und ließ sie einfach weggehen. Bálazs ist begeistert von der Rückenansicht von Lillian Gish, weil, so sagt er, in diesem Moment das Kino anfängt. Denn der Zuschauer fängt zu projizieren an. Das habe ich den Schauspielern bei den Proben erklärt. Ich möchte nicht eindringen in die Psyche der Figuren, sondern ihnen folgen.

In einem Film von Claire Denis passiert so etwas Ähnliches. Es ist der Vampirfilm …

„Trouble Every Day“ – den haben wir zur Vorbereitung gesehen.

Ich meine die Einstellung auf den Nacken des Zimmermädchens.

Das ist einfach wahnsinnig. Ich finde „Trouble Every Day“ teilweise grandios, aber irgendwie hat Claire Denis die Kontrolle verloren. Ich finde, wenn man einen B-Film über mad scientists macht, muss man das ernst nehmen, und das tut sie nicht.

Sie hat eben diese große Lust an den Körpern.

Ja, aber dann verbraucht sich diese Lust, da sie nicht von der Lust an anderen Dingen umgeben ist. Trotzdem ist der Film einer von denen, die man sich immer wieder gerne anguckt. Und dieses Zimmermädchen … Laurent Cantet hat in seinem Film „Auszeit“ etwas Ähnliches gemacht. So bin ich auf Aurélien Recoing gekommen.

„Gespenster“, 15. 2., 12.30 und 19.30 Uhr, Berlinale-Palast; 16. 2., 9.30 und 23.30 Uhr, Urania; 16. 2., 20 Uhr, International