Die neue Zeit lässt auf sich warten

Dokumentationen vom Wandel der Städte und den Verlierern der Modernisierung: „Arlit, deuxième Paris“ (Forum) erzählt vom Stillstand der Bewohner in Arlit im Niger lange nach dem Bergbauboom, „Yan Mo“ (Forum) zeigt aufgebrachte, fluchende Chinesen in Fengjie kurz vor dem Staudammbau

VON HARALD FRICKE

Städte wachsen mit den Ideen und Bedürfnissen der Menschen, die in ihnen leben. 1968 war Arlit, im Norden von Niger gelegen, eine Siedlung aus Lehmhäusern. Doch mit dem Abbau von Uran wurde das Dorf in den Siebzigerjahren zur Boomtown, einem zweiten Paris in Afrika. Auf dem Höhepunkt waren 25.000 Arbeiter im Bergbau und den angeschlossenen Industriezweigen beschäftigt, dann brach der Markt zusammen und mit ihm die Stadt am Rande der Sahara. Heute ist Arlit ein Auffangbecken für Flüchtlinge aus allen Gegenden des Kontinents, die sich von hier aus nach Libyen und weiter nach Europa durchzuschlagen versuchen.

In seinem Dokumentarfilm „Arlit, deuxième Paris“ besucht der aus Benin stammende und in Babelsberg ausgebildete Regisseur Idrissou Mora-Kpai das frühere Eldorado. Die Stimmung ist gedrückt, viele der dagebliebenen Arbeiter leiden an Asthma und anderen gesundheitlichen Schäden durch das radioaktive Uran, das sie abbauen mussten. Auf der anderen Seite verdienen sich Tuaregs ihr bisschen Geld damit, Emigranten an die nordafrikanische Küste zu schleusen. Die Illegalität und das Leben am Existenzminimum bestimmen den Alltag: Wer Glück hat, findet Jobs in den Autowerkstätten, schließlich geht beim Menschenschmuggel manch ein Motor zu Bruch. Für die meisten Bewohner von Arlit, die Mora-Kpai in seinem Film porträtiert, herrscht Stillstand in der Stadt.

All das zeigt „Arlit, deuxième Paris“ in träge unter der Sonne flirrenden Sequenzen. Immer wieder dreht sich die Kamera ziellos im Kreis, tastet die Baracken und rötlich glänzenden Häuser ab. Erst in den Gesprächen wird deutlich, warum die Stadt einmal den Ruf hatte, der Schmelztiegel Afrikas zu sein. Hier kamen Leute aus Togo, Kamerun oder Nigeria her, weil es ein Ort der Zukunft war. Heute erinnern nur die vielen Sprachen und unterschiedlichen Biografien daran, dass es im Zuge der Entkolonialisierung die Chance für ein panafrikanisches Wirtschaftswunder gab.

Auch Fengjie galt einmal als Stadt von morgen, war doch der Jangtse jahrhundertelang Grundlage für das Handelszentrum in der Mitte von China. Nun wird der Fluss der Bevölkerung zum Verhängnis. Die Regierung hat beschlossen, hier den Drei-Schluchten-Staudamm zu errichten: Weite Teile der mittleren Großstadt werden in den nächsten Jahren überflutet sein. Die Dokumentation „Yan Mo“ von Yan Yu und Li Yifan hält dieser technokratischen Fortschrittsideologie des Staates die konkreten Bedingungen vor Ort entgegen. Während oberhalb von Fengjie eine neue City aus Hochhaussiedlungen und Betontrassen entsteht, weigern sich die meisten Bewohner, ihre Wohnungen zu verlassen. Ein Kleinkrieg zwischen Parteikadern, die für den reibungslosen Umbau der Stadt verantwortlich sind, und Alteingesessenen, die sich den Anweisungen nicht beugen wollen. Selten hat man im Film dermaßen aufgebrachte Chinesen gesehen, die unentwegt fluchen und über die korrupte Bürokratie ihres Landes klagen.

„Yan Mo“ schenkt möglichst vielen der Beteiligten ein paar Minuten Aufmerksamkeit: Der Bürgermeister, von der Situation überfordert, versucht mit sozialistischer Planwirtschaftsrhetorik zu schlichten; bei einer „Hauslotterie“ entlädt sich der Zorn der anwesenden Bauern: Sie weigern sich, an der willkürlichen Vergabe der neuen Wohnungen teilzunehmen. Irgendwann ist die Lage völlig aus dem Ruder gelaufen, in den halb abgerissenen Ruinen harren die Bewohner von Fengjie trotzig ohne Strom und Wasser aus. Sie wollen sich ihre Stadt nicht nehmen lassen, auch nicht, als die ersten Sprengkommandos anrücken.

Dem „Weltspiegel“ wäre dieses Scheitern fünf Minuten Sendezeit wert; hier erfährt man in spannenden zweieinhalb Stunden, dass China erhebliche Schwierigkeiten bevorstehen, wenn es die Bedürfnisse der Menschen nicht ernst nimmt. Der Parole „Vorwärts in die Neue Zeit“, die eine Sängerin auf dem Marktplatz in ihr Mikrofon trällert, hört niemand mehr zu.

„Yan Mo“, 17. 2., 20 Uhr, Arsenal;18. 2., 16 Uhr, Babylon