Unverdorbene Helden

Melancholie und Fernweh: Neue Spielfilme aus China nehmen nicht nur den Alltag sehr genau, sondern überschreiten auch Grenzen alter Tabus. Fast alle kommen derzeit auch in China ins Kino

VON SUSANNE MESSMER

Der Ausschnitt ist winzig. In einer minutenlangen Einstellung sieht man nichts weiter als einen Drucker. Im Off unterhalten sich zwei Personen über die Gestaltung eines Schildes. „Die Schriftzeichen sollten größer sein“, sagt eine Frau, „Okay, ich mache sie größer“, antwortet ein Mann. Dass wir uns in einem Film über den Alltag einer dreiköpfigen Familie in einer engen Arbeiterwohnung in Peking befinden, dass der Vater gerade einen Ausverkauf plant, mit seinem Schild für Preisnachlass werben und damit neue Kunden in sein Taschengeschäft locken will – das weiß man zu diesem Zeitpunkt höchstens aus dem Programmheft.

Erst nach der vierten oder sechsten von nur insgesamt 23 Szenen wird klar: Liu Jiayin, eine 23 Jahre alte Studentin an der Pekinger Filmakademie, hat mit „Oxhide“ („Niu Pi“) ein perfektes Porträt ihrer eigenen Familie vorgelegt. Dieser Film beschäftigt den Zuschauer noch Tage, weil er ihn mit in die Wärme und die Verzweiflung dieser Familie zerrt und sperrt. Und er zeigt Großes in ein paar winzigen Gesten und Gesprächen: Die Versagensängste der Eltern, im neuerdings so selbstbewussten China nicht ökonomisch Fuß fassen zu können, die Sorge des Vaters um die einzige Tochter, weil diese nicht mehr wächst und damit kaum dem aktuellen chinesischen Schönheitsideal entsprechen kann.

„Oxhide“ ist der unauffälligste und in seinem Desinteresse an einem breiten Publikum vielleicht der arroganteste Spielfilm aus China auf der diesjährigen Berlinale. Bestimmt ist er aber auch der spannendste. In seinem verschärften Interesse am Alltag treibt er auf die Spitze, was Ende der Neunziger eine neue Generation, die so genannte sechste Generation von Filmemachern in China, begann: Auf eigene Faust drehten sie wirklichkeitsnahe, wilde Filme über verdrängte Themen wie Armut auf dem Land, Abwanderung in die großen Städte, Prostitution und Homosexualität. Schade, dass in diesem Jahr nur einer aus dieser sechsten Generation, Liu Bingjian, mit seinem Film „Plastic Flowers“ („Chun Hua Kai“) auf der Berlinale vertreten ist.

Sein melancholischer Film erzählt von einer Plastikblumenfabrik in einer tristen Industriestadt, weit weg von Peking und Schanghai und von einer neureichen Chefin und ihrer Suche nach einem Mann unter ihren Arbeitern. Einer von ihnen, Quisheng, geht leer aus und spielt, am Boden zerstört, in Gedanken seinen Selbstmord durch. Im Interesse für die Verlierer der „aufsteigenden Weltmacht“ China zeigt sich „Plastic Flowers“ sehr deutlich als Film eines Regisseurs der sechsten Generation. Neu ist aber: Während die Filme der Kollegen von Liu Bingjian bislang nur auf westlichen Festivals Kultstatus erreichten und in China nicht offiziell gezeigt werden durften, wird „Plastic Flowers“ demnächst in die chinesischen Kinos kommen. Das lässt darüber spekulieren, ob sich die Zensurbehörden wirklich nicht mehr für offene Sozialkritik interessieren oder ob ihnen einfach nur die Puste ausgegangen ist.

Während man diesen Erfolg von „Plastic Flowers“ als Sensation betrachten kann, verwundert dies bei den anderen offiziell durchgewunkenen Filmen aus China, die in diesem Jahr auf der Berlinale zu sehen sind, weniger. Der Tibet-Western „Mountain Patrol“ („Kekexili“), die ethnologische Studie „Mongolian Ping Pong“ („Lü Cao Di“) und das nostalgische Familiendrama „Peacock“ („Kong que“) spielen sehr weit weg oder sehr weit zurück. Unkritisch sind sie deshalb nicht.

Die Filme von Lu Chuan und Ning Hao spielen in Tibet und in der Mongolei. Beide Regisseure erzählen, nach ihrem Fernweh befragt, viel von der Oberflächlichkeit des neuen Chinas, von Konsumterror und Leistungszwang – und von der Unverdorbenheit ihrer Helden. Aber das ist nicht alles. Beide stellen sich in ihren Filmen auch tabuisierten Themen: „Mountain Petrol“ von Lu Chuan, ein umwerfend kraftvoller Film, erzählt die wahre Geschichte einer tibetischen Bergpatrouille, die eine Horde Wilderer zu stellen versucht. Am Anfang des Films wird ein Journalist aus Peking eingeführt, dem die Naturschützer zutiefst misstrauen: Und zwar nicht nur wegen seines Berufs, sondern auch wegen seiner Herkunft. Außerdem ist klar: Die Wilderer, die für den Profit abschlachten, sind auch meist chinesischer Abstammung. Denn die Tibeter schlachten nur, was sie essen.

In „Mongolian Ping Pong“ von Ning Hao ist der Staat so unwichtig wie ein ferner Stern. Schon die Eingangsszene: Eine mongolische Familie lässt sich vor einem Poster mit dem Platz des Himmlischen Friedens fotografieren. Als dies vollbracht ist, tritt man zufrieden aus der Kulisse, mitten hinein ins weite, weite Grasland. Die Strategie, „gefesselt zu tanzen“, wie Ning Hao es schmunzelnd nennt, also Probleme zwischen schönen Bildern aufblitzen zu lassen – erinnert an die frühen Filme von Chen Kaige oder Zhang Yimou, an Filme wie „Das Rote Kornfeld“ oder „Lebewohl meine Konkubine“ – und an das Ziel dieser Regisseure der fünften Generation, gleichzeitig bei sich zu bleiben und ein breites Publikum zu erreichen.

Heute sind diese Regisseure bei glatt polierten und gleichwohl erfolgreichen Historienschnulzen gelandet, von denen sich die Regisseure der sechsten Generation zu Recht abgrenzten. Filme wie die von Ning Hao oder der von Lu Chuan wecken dagegen Hoffnung: Immerhin ist „Mountain Patrol“ einer der ersten anspruchsvollen Filme in China, der ein Kinokassenschlager wurde. Vielleicht setzt er damit sogar die Entwicklung eines Arthouse-Kinos in Gang, das China so nötig braucht.

Der Gradwanderung zwischen Mainstream und Irritation, zwischen innerer Zensur und Streitlust wird sich auch „Peacock“ stellen müssen, der einzige Film aus China im Wettbewerb. Gu Changwei, geboren 1957, studierte in der Klasse von Chen Kaige und Zhang Yimou, führte für sie Kamera und hat nun seinen ersten eigenen Film fertig gestellt. Es geht um den Alltag einer chinesischen Arbeiterfamilie in den späten Siebzigerjahren. Fast ein Drittel seines Films musste Gu Changwei wegschneiden: Zum Beispiel alle Stellen, in denen es um Homosexualität ging. Trotzdem gibt es noch immer Passagen, die sehr feinfühlig mit dem China nach der Kulturrevolution umgehen. So oder so wird nun auch dieser Film bald in den chinesischen Kinos anlaufen.

„Oxhide“, 16. 2., 19.15 Uhr, Babylon. „Plastic Flowers“, 17. 2., 20 Uhr, CinemaxX 7, 18. 2., 12 Uhr, 19. 2., 18 Uhr, CineStar 3. „Mountain Patrol“, 16. 2., 20.30 Uhr, Colosseum. „Mongolian Ping Pong“, 16. 2., 22 Uhr, CineStar 8, 17. 2., 12.45 Uhr, CinemaxX 3, 18. 2., 20.30 Uhr, Colosseum. „Peacock“, 18. 2., Berlinale-Palast, 19. 2., 15/20 Uhr, Urania, 19. 2., 22.30 Uhr, International