Jungs sind nur Gespenster

Erinnerung ist ihr Material: In ihrem ersten Spielfilm „Top Spot“ erzählt die Künstlerin Tracey Emin eine Geschichte weiblichen Erwachsenwerdens in einem verblichenen Seebad bei London (Forum)

VON BRIGITTE WERNEBURG

„Everyone I have ever slept with 1963–1995“ – das Zelt, in das sie die Namen ihrer Liebhaber sowie all derer genäht hatte, mit denen sie jemals ihr Bett geteilt haben will, angefangen bei ihrer Geburt, machte sie berühmt. Die Installation brachte Tracey Emin die Nominierung für den Turner-Preis, den sie allerdings nicht gewann. 150.000 Pfund war dem Sammler Charles Saatchi ihr Zelt wert. Letztes Jahr im Mai verbrannte es in dem Großfeuer, das in einem seiner Kunstlager in London wütete.

Erinnerung, genauer gesagt autobiografische Erinnerung, ist das ausschließliche Material, aus dem Tracey Emins Kunst entsteht. Mit diesem Material stellt sie ihre stets skandalträchtigen und umstrittenen Zeichnungen, Fotografien, Texte, Bücher und Installationen her. Aus diesem Material ist auch „Top Spot“, Tracey Emins erster Spielfilm, gefertigt. Erinnerung heißt für Emin das Meer und Margate, ein heruntergekommenes Seebad südöstlich von London mit all den Alltagstraumata, die aus der Langeweile geboren werden und Probleme mit der Schule, dem Alkohol und den Jungs bedeuten, bis hin zu Vergewaltigung, Abtreibung und Fehlgeburt.

Eine wacklige Kamera findet in der ersten Einstellung den Weg zum Strand und zum Meer, dessen weiter Horizont ein Sehnsuchtsbild liefert, zu dem Brian Ferry „Sea Breezes“ singt, bevor Emin mit der Kamera auf den örtlichen Rummel schneidet, um schließlich in die Kuppel der lokalen Disco zu zoomen. Deren Name ist „Top Spot“, wie Emin im drüber gelegten Kommentar erklärt, und meint die Stelle, an der der Penis beim Geschlechtsverkehr auf die Gebärmutter stößt; die Stelle, wo Lust und Schmerz sich jederzeit treffen können, was – symbolisch gelesen – der Geschichte der sechs Mädchen, die der Film erzählt, ihre thematische Basslinie gibt.

Als Künstlerin, die als Amateurfilmerin Kino macht, erlaubt sich Tracey Emin, dokumentarische und fiktionale Stile und Genres nach Belieben zu mischen, und entsprechend treibt sie ihre Story in sehr lockeren, assoziativen Szenen und Tonmontagen voran. Das Gruppenporträt ihrer sechs Protagonistinnen ist ein Bild der Welt allein aus weiblicher Sicht. Die Jungs erscheinen als Gespenster, die die Mädchen noch in ihren Träumen schrecken. Und dabei ziehen die Mädchen Jacken an, auf deren Rücken „Animal“ steht. Mit einem solchen Sweater streift Helen durch die Straßen in Kairo, auf der Suche nach dem Jungen vom Rummel, den sie in Ägypten vermutet.

Ein niederschmetterndes und erhellendes Bild zugleich, das umstandslos deutlich macht: die Mädchen sind der Ironie in keiner Weise gewachsen, die Mode und Popkultur von ihnen fordern und die Subkultur, bei der sie Halt suchen. Zwar sind sie zu Recht in ihren Hoffnungen und Ängsten zutiefst unironisch. Doch weil sie die Bezeichnung als Tier, als „eine Wärme und keine Person“ (Marie Louise Fleißer) nicht zur kalten Herzens getragenen, eisernen Maske der Ironie umschmieden können, können sie sich nicht schützen. Eher schweigen sie über eine Schwangerschaft, wegen der sich eines der Mädchen schließlich umbringen wird. Sie lackieren sich die Nägel, blättern in Magazinen, fliehen in die Romane des 19. Jahrhunderts und ans Meer, das Sonnenuntergänge zeigt, mit deren Farbenspiel nur noch die Neonzeichen der Cafés und Bars konkurrieren können.

Ein glückliches Ende gibt es dennoch, denn zum Schluss steigt „Mad Tracey from Margate“ (wie sich Emin selbst bezeichnet) in den Helikopter. Sie verlässt den Schauplatz, den sie ganz deutlich auf der Ton- und etwas weniger eindeutig auf der Bildspur einem Bombardement zum Opfer fallen lässt. Vielleicht werden die übrig gebliebenen Mädchen, so wie sie, die Sache mit der Ironie noch kapieren.

„Top Spot“. 17. 2., 21.30 Uhr, Dephi; 18. 2., 12.45 Uhr, CinemaxX 3; 19. 2., 15 Uhr, Arsenal