„Ein Sexfilm, der kein Sexfilm mehr ist“

Von der Liebe, dem schmerzhaften Verhältnis zur Pornografie, der Unkontrollierbarkeit des Körpers und von Nudelknäueln, die die Soße verschlucken: Ein Gespräch mit dem Regisseur Tsai Ming-Liang über seinen Film „The Wayward Cloud“ (Wettbewerb), der das Thema Körper ins Extrem treiben will

INTERVIEW CRISTINA NORD

Taz: Tsai Ming-Liang, dass es in Ihren Filmen um Körper und um Sexualität geht, ist nicht neu. Dass man den Figuren dabei zusieht, wie sie Pornos drehen, schon. Wie kam es dazu?

Tsai Ming-Liang: In allen meinen Filmen treibe ich ein Thema ins Extrem - dahin, wo es sich selbst negiert. „The Wayward Cloud“ ist ein Sexfilm, der zugleich kein Sexfilm mehr ist. Das Hauptthema ist der Körper: Was ist die Grenze des Körpers? Bis zu welchem Punkt kann man gehen? Sex ist ja einerseits ein Grundbedürfnis des Menschen, eine Grundlage für seine Fähigkeit zur Liebe. Andererseits wird Sex in der Pornografie so auf die Spitze getrieben, dass er sich in der reinen Körperbewegung erschöpft. Die Persönlichkeit des Darstellers ist nicht mehr gefragt. Und wenn man sich anschaut, wie dabei mit dem Körper umgegangen wird, kann man einige sehr interessante Sachen sehen.

Zum Beispiel?

Der Körper ist etwas, was sich der Kontrolle entzieht. Gedanken kann man kontrollieren, den Körper nicht. Zum Beispiel hat man keine Kontrolle darüber, ob man krank wird. Dass man altert, liegt jenseits jeglicher menschlicher Kontrolle. Trotzdem versuchen wir, den Körper zu kontrollieren. Zugleich verlangt der Körper, dass ständig etwas in ihn eingeführt wird, dass er ernährt wird - mit Nahrung, mit Sex.

Deswegen spielt das Essen eine so große Rolle in Ihren Filmen?

Wir sind ständig konsumierende Tiere, wobei uns unser Konsum nie zufriedenstellen wird und uns auch nie zufriedengestellt hat. Das steht in einem gewissen Kontrast zu unseren Moralvorstellungen, die dadurch ins Chaos gestürzt werden. Um auf die von Lee Kang-Sheng gespielte Figur des Pornodarstellers zu sprechen zu kommen: Bei dem, was er tut, geht es ganz klar ums Überleben. Deswegen arbeitet er als Pornodarsteller. Aber er geht nicht total auf in dieser Rolle. Es bleibt ein Rest an Humanität übrig. Er weiß noch, was Liebe bedeutet, auch wenn er in einigen Szenen ein reines Sexobjekt ist - eine Art Sexkörperteil.

Die letzte Sequenz zeigt einen Pornodreh, der sehr lange dauert. Die weibliche Figur, eine Japanerin, ist ganz regungslos, und man weiß nicht: Ist sie bewusstlos? Ist sie tot?

Ich will die Pornoindustrie gar nicht direkt kritisieren. Aber was hinter dieser Szene steckt, ist natürlich: Wenn du dieser Art von Arbeit nachgehst, dann stirbt ein Teil von dir und deinem Körper. Ich schaue mir natürlich auch Pornofilme an. Trotzdem habe ich ein widersprüchliches, schmerzhaftes Verhältnis dazu. Ich frage mich: Was passiert nachher mit den Darstellern? Die werden ja ständig ausgewechselt. Immer wieder tauchen neue Gesichter auf, und von den alten weiß man nichts.

Sie lassen in der Schwebe, ob die Figur bewusstlos oder tot ist?

Ja, das ist Absicht. In einer Einstellung kann der Zuschauer sich denken, dass sie möglicherweise noch lebt, da sie sich kurz bewegt. Das ist aber auch nicht wirklich wichtig. Das Wichtige ist vielmehr, dass sie zum reinen Objekt wird, das von einer Gruppe von Männern bewegt und bearbeitet wird.

Diese lange Schlussequenz und das Vorangegangene bilden einen harten Kontrast. Zuvor boten die Sexszenen oft einen Augenblick von comic relief. Oder die Trostlosigkeit wurde von den exaltierten Musicaleinlagen aufgehoben. Warum die Zäsur?

Die Idee ist, dass der Zuschauer nicht länger die Möglichkeit hat, den Film zu kontrollieren. Während man einen Pornofilm nach Belieben vor- und zurückspulen kann, wird der Zuschauer in „The Wayward Cloud“ dazu gezwungen, die letzten 15, 20 Minuten über sich ergehen zu lassen. Das Phänomen, um das es grundsätzlich geht, ist die Verwandlung von allem und jedem in ein Konsumobjekt. Die Konsumierbarkeit wird aber in der Schlussphase meines Filmes aufgehoben. Denn man kann den Teil, den man nicht sehen will, den man als unmenschlich empfindet, nicht überspringen.

Einmal gibt es eine recht aufregende Einstellung auf ein Nudelgericht. Es sieht aus, als würden die weißen Nudelknäuel die Sauce verschlucken. Das Essen isst sich selbst.

In diesem Film gibt es viele metaphorische Einstellungen. Schon der Titel deutet das an: Der Mensch ist eine Wolke, die keine Kontrolle über ihr Ziel und ihre Bewegungen hat. Die von Lee Kang-Sheng gespielte Figur ist eine Wolke, die getrieben wird. Es gibt einige Einstellungen, die dies metaphorisch verlängern: Zum Beispiel, wenn er in einem Wassercontainer badet und sich der Seifeschaum in alle Richtungen ausbreitet, wie sich Wolken ausbreiten. Und wenn er die Nudeln frittiert, haben die ja auch die Form von Wolken. Andereseits wird ziemlich viel Sauce daraufgekippt. Und das wiederum ist sehr erotisch, sehr sexuell. Es gibt da eine Art Widerspruch von Wolke und Sex.

Sie arbeiten immer wieder mit dem Schauspieler Lee Kang-Sheng zusammen; er hat inzwischen einen eigenen Film gemacht: The Missing. Darin geht es um das Verschwinden eines Kleinkindes. Und auch Ihre Filme drehen sich immer wieder um Abwesende: um den toten Vater in „What Time ist it there?“ zum Beispiel. In „The Wayward Cloud“ fehlt es an Wasser. Warum ist Abwesenheit ein so wichtiges Motiv?

Manche Dinge sind erst dann wirklich da, wenn sie weg sind. Erst im Verlust werden sie präsent. Man versucht zwar unentwegt, zu neuen Sachen zu kommen und alte zu ersetzen. Doch am Ende stellt man fest, dass man die Sache, die man eigentlich gerne hätte, nicht mehr hat. Deswegen geht in meinen Filmen die wichtigste Sache meistens verloren, und die Suche nach dem verlorenen Objekt wird zum Thema des Films. In „The Wayward Cloud“ ist es das Wasser, das ja auch als Symbol für die Liebe funktioniert.