Der Unbewaffnete

Die Richter des neuen Gerichts waren identisch mit denen des Strafgerichtshofs

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Mehmet Bakir ist ein schmächtiger Mann. Er spricht mit sanfter Stimme, ist höflich und zuvorkommend. Mehrmals entschuldigt er sich für die kleine Verspätung, er hat Angst, womöglich eine Chance zu verpassen, seine Geschichte zu erzählen. Mehmet Bakir, 41 Jahre alter Kurde aus der Türkei, ist Terrorist. Das jedenfalls glaubt ein Gericht in der westtürkischen Metropole Izmir und hat ihn deshalb vor eineinhalb Jahren verurteilt.

Während er erzählt, was man ihm vorwirft, liegt für einen Augenblick so etwas wie Zorn in seiner Stimme. Doch gleich hat er sich wieder gefangen und blättert nervös in seinem Ordner, um einen Schriftsatz herauszufischen, der belegen soll, wie absurd die Vorwürfe sind.

Eigentlich lebt und arbeitet Bakir als freier Journalist in Berlin. Doch dort ist er schon seit über zwei Jahren nicht mehr gewesen. Er geriet in den Verdacht, Mitglied, ja sogar Gründer einer obskuren Terrororganisation zu sein. Warum, weiß er bis heute nicht. Immer noch, zweieinhalb Jahre nachdem er in die Mühlen von Polizei und Justiz geriet, kann er nur mutmaßen, warum sein Leben plötzlich zu einem anhaltenden Albtraum wurde. Aber es fällt ihm schwer, zusammenhängend zu erzählen, er wirkt erschöpft, er springt in seiner Geschichte hin und her.

Der Tag, an dem alles begann, war der 9. Juli 2002. Er saß mit einem Bekannten, den er ein paar Tage zuvor im Urlaub in Kusadasi, einem Badeort an der türkischen Ägäisküste, kennen gelernt hatte, im Auto. Gemeinsam waren sie auf dem Weg zum Ferienhaus seines Vaters. Mehmet Desde, der Bekannte, kommt ebenfalls aus Deutschland und hatte gerade die Urne seines verstorbenen Vaters zur Beisetzung in die Türkei gebracht.

Mitten auf der Landstraße werden sie von zwei Polizeiwagen gestoppt, aus dem Auto gezerrt und nach Foca gebracht. „Als wir in Handschellen aus der Wache wieder herauskamen, um nach Izmir gebracht zu werden, warteten dort bereits örtliche Journalisten, die offensichtlich von der Polizei informiert worden waren“, erzählt Bakir. Die Polizei präsentierte die Festgenommen als großen Fang. Später las er in den Zeitungen: „Kopf einer terroristischen Bande verhaftet“.

Bakir und Desde wurden bei der Antiterrorpolizei in Izmir vier Tage lang verhört. Man ließ sie nicht schlafen, sie mussten an einer Wand stehen, bis sie zusammenbrachen. Sie wurden mit kaltem Wasser bespritzt, angeschrien, geschlagen und immer wieder dasselbe gefragt: Wer gehört zur „BP KK-T“, was hat die Organisation vor, welche Attentate sind geplant? „Wir wussten davon nichts, wir kannten keine BP KK-T, was hätten wir sagen sollen?“

Jetzt weiß er zumindest, was mit der Abkürzung gemeint ist. Die „Bolschewistische Partei Nordkurdistan – Türkei“ soll seit mehr als 20 Jahren existieren und ihr Hauptquartier in Deutschland haben.

Spuren dieser Organisation gibt es im Internet und auf einigen wenigen Flugblättern, die vor Jahren in Izmir und Bursa verteilt wurden. Danach soll die Gruppe sich für den bewaffneten demokratischen Volkskampf engagieren. Darüber hinaus ist die Organisation nie in Erscheinung getreten. Niemand kennt sie, niemand kennt ihre Vertreter.

Vier Tage nach der Tortur in den Verhörräumen der Antiterrorpolizei wurden Bakir und Desde dem Haftrichter vorgeführt. Dabei trafen sie drei Bekannte wieder, alle fünf hatten nur eins gemeinsam: Sie hatten sich zur gleichen Zeit im selben Hotel in Kusadasi aufgehalten. Die Polizei behauptete, in dem Hotel habe ein Treffen der „BP KK-T“ stattgefunden. Und die aus Deutschland angereisten Mehmet Bakir und Mehmet Desde hätten dabei ihre Kader vor Ort instruiert.

Für Bakir gibt es nur eine Erklärung, warum er und Desde als Gründer und Leiter der Organisation angesehen werden: Ihre beiden Familien stammen aus der Provinz Tunceli, eines der Zentren der kurdischen Aufstandsbewegung. Bakir kam mit seiner Familie als Kleinkind nach Istanbul, später ging es gemeinsam weiter nach Deutschland. Auch der vier Jahre ältere Desde lebt seit 24 Jahren in Deutschland und ist mittlerweile deutscher Staatsbürger. Bakir sagt: „Die Stadt Tunceli hatte ich bis vor ein paar Monaten noch nie gesehen.“

In einem Prozess, in dem die Richter das absurde Konstrukt „unbewaffnete Terrororganisation“ erfinden, werden die fünf ein Jahr nach ihrer Festnahme im Juli 2003 vom Staatssicherheitsgericht in Izmir als Gründer der „BP KK-T“ zu jeweils 50 Monaten Gefängnis verurteilt.

Vorausgegangen waren sechs Monate Untersuchungshaft und weitere sechs Monate Vorbereitung auf den Prozess, die die Angeklagten in relativer Freiheit verbringen. Relativ, weil das Gericht Bakir und Desde die Pässe entzogen und eine Ausreise nach Deutschland verweigert hat. Die Angeklagten bleiben auf freiem Fuß, weil ihre Anwälte gegen das Urteil Berufung einlegen. „Hätten wir damals das Urteil akzeptiert, wäre ich mit Anrechnung der U-Haft und dem nahezu obligatorischen Strafnachlass jetzt wahrscheinlich schon wieder draußen und hätte längst wieder in Berlin sein können.“

Zwischenzeitlich schien es für ihn besser zu laufen. Die im November 2002 neu gewählte Regierung von Tayyip Erdogan begann mit einem weitreichenden Reformprozess, in dessen Verlauf sowohl die Antiterrorgesetzgebung wesentlich verändert wie auch die Staatssicherheitsgerichte abgeschafft wurden. Außerdem propagierte die Regierung Erdogan eine Nulltoleranz gegen Folter.

Über das kann Bakir nur lächeln. „Die Polizei pfeift darauf und die Gerichte ebenso“, sagt er. Er und Desde haben sich unmittelbar nach ihrer viertägigen Haft in den Händen der Antiterrortruppe vor dem Haftrichter und später bei der zuständigen Staatsanwaltschaft wegen Folter beklagt. Bakirs Anzeige hat die Staatsanwaltschaft gleich abgewiegelt, die andere wurde erst dann ernst genommen, als das deutsche Konsulat in Izmir für den deutschen Staatsbürger Desde intervenierte.

Nach mehr als einem Jahr, am 2. Oktober 2003, wurde vor dem Landgericht in Izmir ein Verfahren gegen vier Polizisten wegen der Foltervorwürfe eröffnet. Der damalige Chef der Antiterrorabteilung, der zwischenzeitlich zum Vizepolizeichef der Provinzmetropole Aydin aufgestiegen ist, ist bislang zu keinem Verhandlungstermin erschienen. Angeblich fehlt dem Gericht eine ladungsfähige Adresse, also wurde der Prozess immer wieder vertagt. „Da wird nie was bei rauskommen“, befürchtet Bakir. Er selbst durfte noch nicht einmal als Zeuge aussagen.

Man ließ sie nicht schlafen, sie mussten stehen, bis sie zusammenbrachen

Trotzdem scheint es so, als würden die Reformen zwar noch nicht die Folterer ins Gefängnis, aber doch wenigstens Bakir und die anderen Beschuldigten aus ihrer misslichen Lage befreien. Das oberste Berufungsgericht hob im April 2004 das Urteil des Staatssicherheitsgerichtes auf und verwies den Fall zurück an ein Landgericht für schwere Straftaten in Izmir, das nun – nach der Auflösung der Staatssicherheitsgerichte – für den Fall der BP KK-T zuständig ist. Die neue Verhandlung war für Anfang Oktober angesetzt. Alles sah nach einer reinen Formsache aus. Doch es kam anders.

Die Richter des neuen Strafgerichts waren identisch mit denen des früheren Staatssicherheitsgerichtes. Auch das Gerichtsgebäude war dasselbe. Gleich nach der ersten Verhandlung, in der die Angeklagten lediglich zu dem Spruch des Revisionsgerichts Stellung nehmen konnten, wurde am 12. Oktober wieder ein Schuldspruch gegen das Quintett um Bakir verkündet. Obwohl der Staatsanwalt auf Freispruch plädiert hatte, reduzierten die Richter nur das Strafmaß von 50 auf 30 Monate. Das Ausreiseverbot gegen Bakir und Desde hielten sie jedoch weiterhin aufrecht.

Warum, ist Mehmet Bakir nicht klar. „In anderen Fällen hat sich dasselbe Gericht durchaus selbst korrigiert, doch wir waren denen wahrscheinlich zu aufsässig. Die haben sich geärgert, weil wir unseren Fall öffentlich gemacht hatten.“

Aber er ist sicher, das Revisionsgericht wird das Urteil erneut kassieren. „Die Vorwürfe sind einfach aus der Luft gegriffen und völlig haltlos.“ Doch bis es so weit ist, wird noch einmal ein Jahr ins Land gehen. Bakir ist mit einer Deutschen kurdischer Herkunft verheiratet. Seine Frau lebt nach wie vor in Berlin und kann und will auch nicht nach Istanbul kommen. „Unsere Beziehung zerbricht an der ganzen Geschichte“, fürchtet er.

Auch seine finanzielle Situation ist prekär. Er wohnt bei einem Bruder in einem Vorort Istanbuls, der als Lehrer nur ein bescheidenes Einkommen hat. „Er ist geschieden und hat zwei Kinder, die er versorgt. Trotzdem lebe ich hauptsächlich von ihm.“

Mehmet Bakir jobbt zwar bei einigen Zeitungen, doch solange der Prozess läuft, kann er keinen Fulltimejob annehmen. „Außerdem müsste ich einem Arbeitgeber meine Situation offen legen. Niemand würde mich einstellen.“ So schlägt er sich als Fotojournalist durch und träumt davon, einmal eine Ausstellung machen zu können. Seine eigentliche Liebe ist das Theater und der Film. Er würde gern ein Stück schreiben oder auch einmal an einem Film mitarbeiten, als Regieassistent oder sogar als Regisseur. „Ich habe Talent für so etwas“, meint er und fügt hinzu, „sagen mir Freunde“, um nicht als überheblich zu gelten.