„Wer genug hat, muss gehen“

Zum 60. Geburtstag von Thomas Brasch erinnerten drei Initiativen an den 2001 gestorbenen Lyriker und Dramatiker

„Was soll eigentlich aus Mitteleuropa werden, wenn ich eines Tages nicht mehr da bin?“, fragte eine krakelige weiße Schrift auf roten Plakaten, die in der Berliner Innenstadt „BRASCH ACUD“, ein ganztägiges Spektakel zu Werk und Person Thomas Braschs, ankündigten.

Am 19. Februar wäre der Lyriker, Erzähler, Dramatiker und Filmemacher Thomas Brasch sechzig Jahre geworden. Die Frage zu Mitteleuropa ließe sich auf laxe Art beantworten: mit Mitteleuropa geht's immer irgendwie weiter. Etwas anderes dagegen scheint unvereinbar – der Name Thomas Brasch und die Zahl 60.

Mit dem Titel des Erzählungsbandes „Vor den Vätern sterben die Söhne“ hatte Thomas Brasch 1977 einen Anspruch formuliert, der stark nach der Rock-'n’-Roll-Forderung „Stirb jung“ klang. Darunter lag freilich eine Tragik, die ihn von den meisten seiner Altersgenossen in Ost wie West trennte. Es war immer der Kampf mit dem Vater, der sich durch das gesamte Werk zieht und der im Leben mit der Verhaftung des vom Vater verratenen Sohnes im August 1968 nach einer Flugblattaktion gegen den Einmarsch der Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag seinen Höhepunkt hatte.

Horst Brasch, ein jüdischer Kommunist, machte nach dem Krieg aus dem englischen Exil kommend schnell eine Karriere in der DDR, während seine drei Söhne die Zweifel an der Welt lebten, die ihm zu fehlen schienen. An Jahren hat der Vater Horst Brasch alle seine Söhne überlebt. Klaus, der Schauspieler, starb mit 30, Peter, der Schriftsteller mit 45, wenige Monate vor seinem Bruder Thomas, der elf Jahre älter wurde und am 3. November 2001 einem Herzversagen erlag.

In Berlin hatten am Wochenende gleich drei Initiativen zum Gedenken an den Geburtstag des toten Dichters geladen: das Kunsthaus Acud mit einer Initiative von Freunden und Künstlern, die Bundeszentrale für politische Bildung und einen Tag später das Berliner Ensemble, dem der Dichter bis zu seinem Tod in Hassliebe verbunden blieb. Früh Gestorbene haben meist zu viele Hinterbliebene, die sich aus den verschiedensten Gründen nicht grün sind. Aber im Falle Thomas Braschs kann des Gedenkens nicht genug sein – er muss immer wieder dem Vergessen entrissen werden.

Das Kunsthaus Acud auf dem Veteranenberg zwischen Mitte und Prenzlauer Berg scheint ein ewiges Provisorium, man rechnet eigentlich nicht mehr damit, dass es irgendwann fertig wird. Unbehaustsein war auch ein ewiger Zustand Thomas Braschs, von daher war der Ort für das ganztägige Brasch-Spektakel nicht unklug gewählt – wenn denn der Autor nicht im eisigen Februar geboren worden wäre. Das Provisorium ließ die Füße schon nach der zweiten Veranstaltung kalt werden. Aber wenigstens das Kino war geheizt, und so konnte, wer wollte, noch einmal sämtliche Filme Braschs sehen, allen voran „Engel aus Eisen“, die Geschichte des jugendlichen Verbrechers Werner Gladow im Nachkriegsberlin – sein bester Film.

Den Auftakt bildete die Dokumentation „Thomas Brasch – eine Skizze“ von Christoph Rüter. Der Filmemacher hatte den Dichter in den letzten Monaten seines Lebens mehrmals interviewt und Stationen seines Lebens zu einer Skizze verwoben. Diese Bilder, wie auch die in der Galerie ausgestellten des Fotografen Roger Melis, der Brasch von 1972 bis 1996 immer wieder fotografierte, zeigen einen Menschen, dessen Hoffnungen und Hoffnungslosigkeiten sich in den Augen widerspiegelten. Am Ende hatte Brasch erschreckende Ähnlichkeit mit seinem Vater kurz vor dessen Tod. Eine Ähnlichkeit, die es vorher zu keinem Zeitpunkt gab. Wer hatte sich da wem angenähert?

Bei Einbruch der Dunkelheit konnte man auf der Baustelle unter dem Dach mit Blick auf den Fernsehturm die Verhörprotokolle der Staatssicherheit nach der Flugblattaktion 1968 hören, gelesen von Reinickendorfer Schülern. Der Verhörte: „Thomas Georg Brasch, geboren im Westen“, Sohn seines Vaters Horst „von Beruf Werkzeugmacher, zuletzt Staatssekretär“. Kein Wunder, dass Thomas Brasch am Ende Shakespeare-Dramen übersetzte: Zwei Etagen tiefer spielten Studenten der Theaterhochschule „Ernst Busch“-Szenen aus Richard III.

„Wer genug hat, muss gehen, sagt der Wirt“, las Carmen Maja Antoni kurz vor Mitternacht aus einem Gedicht Braschs. Da war man dann schon ganz froh, dass Nino Sandow, der Sänger, der den Schlusspunkt bilden sollte, krank im Bett lag.

ANNETT GRÖSCHNER