Eine Vielzahl von Sünden

Adrian Tomines neuer Comicband „Sommerblond“ erzählt vom Lebensgefühl der Twenty- und Thirty-Somethings in den großen Städten

von ANDREAS MERKEL

Der junge Mann hat seinen Flug verpasst. Er muss also einen Tag länger in der Stadt bleiben. Da er sich jedoch bereits von der Freundin und seinen Freunden verabschiedet hat, verspürt er jetzt keine Lust, sich dort zurückzumelden. Zu viel wäre zu erklären und das ganze Procedere des Abschiednehmens würde sich nur wiederholen. Also streift er für den einen Tag wie ein Fremder durch die Heimatstadt und sein ganzes Leben. Er beobachtet seine Freundin durchs Fenster beim Fernsehen, meidet das Stammlokal an der Uni und rennt weg, als ihn ein Freund erkennen könnte. Am Ende beschließt er, müde und durchgefroren, in ein Hotel zu gehen. „Ich suchte mir ein schönes aus, eins, wie es sich Eltern nehmen, wenn sie ihre Kinder im Studentenwohnheim besuchen.“

Die Traurigkeit ist naiv, aber dafür umso existenzieller und ergreifender in den Comics von Adrian Tomine. Die Geschichten heißen „Sommerblond“, „Echo Avenue“ oder, wie die eingangs nacherzählte, einfach nur „Aufenthalt“, und in der Art, wie sie mit kleinsten Veränderungen der Perspektive den größtmöglichen Erkenntniseffekt erzielen, erinnern sie an die Erzählungen von Raymond Carver und Richard Ford, an die Filme von Spike Jonze und Todd Solondz (für die Tomine auch bereits Plakate gezeichnet hat).

Adrian Tomine, geboren 1974 in Kalifornien, japanischer Abstammung und heute zwischen Berkeley und New York pendelnd, zeichnet im Stil der Ligne Claire, deren klare Konturen und Starrheit er jedoch immer wieder mit lakonischer Poesie und großer psychologischer Präzision aufzubrechen weiß. Es ist das Lebensgefühl seiner Generation, der Twenty- und Thirty-Somethings in den großen Städten, das Tomine am Herzen liegt: Wie vertraut und gemeinsam man im Zeichen des Pop aufwuchs, wie fremd und distanziert man sich dafür gleichzeitig bleiben musste – oder jedenfalls: geblieben ist.

Am besten lässt sich das vielleicht an einem Titelbild veranschaulichen, das Tomine im letzten November für den New Yorker zeichnete: Jemand sitzt lesend in der U-Bahn, blickt einen Moment lang auf und sieht im entgegenkommenden Zug ein Mädchen das gleiche Buch lesen, ebenfalls aufblickend – die Ursituation der westlichen Metropole. You don’t know my name, aber man versteht sich sofort, ist sich vielleicht sogar sympathisch, und wahrscheinlich sehe ich dich nie wieder.

Ansonsten sind es vor allem die haarscharf neben sich und dem Mainstream stehenden Außenseiter, von denen Tomine erzählt. Der Stalker, der sich seiner heimlichen Geliebten nicht nähern und schon gar nicht erklären kann, sie dafür aber bei ihrem Freund verrät. Die dickliche Telefonistin, die für ihren Job völlig überqualifiziert ist und ihn trotzdem verliert. Woraufhin sie ihr Gesprächstalent nur noch für üble Telefonscherze mit dem öffentlichen Payphone vor ihrer Wohnung nutzt – bis tatsächlich mal einer dranbleibt und sich mit ihr verabreden will. Oder der einsame, von den Football-Faschos seines Jahrgangs als Schwuchtel gedisste Nerd und die sich auf jeder Party hemmungslos besaufende High- School-Bitch, die beide im selben Diner arbeiten und sich langsam näher kommen. Bis sie ihm anbietet, sich für ihn auszuziehen – und in einem schockierenden Moment der Befreiung plötzlich alles möglich zu sein scheint.

Diese drei sonderbaren Geschichten, versammelt in dem Band „Sommerblond“, zeichnet Tomine mit der wunderbaren Nüchternheit von Versuchsanordnungen, taghell ausgeleuchtet und in Szene gesetzt wie aus einem Bild von Edward Hopper. Das Ende muss immer offen bleiben, so als würde der Leser durch den hübsch mit einem peephole-Umschlag aufgemachten Comicband auf sein eigenes Leben gucken.

Adrian Tomine: „Sommerblond“.Reprodukt Verlag, Berlin 2004,102 Seiten, 15 €