Im Jahr eins nach der Wand

1. Dem Film in Norddeutschland geht es schlecht – weil gespart werden muss: So verzichtete die Nordmedia bei der Berlinale auf ihren traditionellen Empfang. 2. Dem Film in Norddeutschland geht es gut – alles war sehenswert bei den Filmfestspielen

Keine Enttäuschung aus dem Norden. Und Jürgen Vogel kann tatsächlich gut singen

Solch einen triumphalen Erfolg wie im vergangenen Jahr wird ein Film aus Norddeutschland bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin wohl so bald kaum noch einmal feiern können. Der Goldene Bär war ja nur die erste von vielen Auszeichnungen, die „Gegen die Wand“ von Fatih Akin auch international zum Phänomen machte. Die New York Times nannte ihn noch vor kurzem bei seinem Kinostart in den USA „den bisher besten Film des Jahres“. Auch wenn dieser Satz in der dritten Januarwoche eher ironisch klingt, bleibt er doch ein hohes Lob.

Aber die norddeutsche Filmszene wurde zumindest finanziell durch diesen Erfolg nicht befruchtet, denn in allen Ländern wurde bei der Filmförderung schmerzhaft gekürzt. Die Film-Fördergesellschaft für Niedersachsen und Bremen, nordmedia, ist derart in die Kritik geraten, dass es im Januar zu einer Debatte im niedersächsischen Landtag über ihre Förderpraktiken kam (taz berichtete). Da war es ein kluger Schachzug von nordmedia, den traditionellen abendlichen Empfang bei der Berlinale, der in den letzten Jahren üppig zelebriert wurde, einzusparen und stattdessen zu einem vergleichsweise kargen „Talk“ am Mittag zu laden.

Bei ihrer Anzeige in Branchenpublikationen war nordmedia dann aber schon nicht mehr so bescheiden: „Auch in diesem Jahr unterstützten wir die internationalen Filmfestspiele mit einer Auswahl von uns geförderter Beiträge“, war da zu lesen. Eine leicht vermessene Formulierung, denn wer unterstützt da wen und wer traf die Auswahl?

Zu sehen waren drei mit niedersächsisch/bremischem Geld geförderte Filme in der Berlinale-Sektion Panorama, und zumindest einer davon gehörte zu jenem jungen, frechen, dreckigen deutschen Kino, das auch in diesem Jahr wieder abseits des Wettbewerbs auf der Berlinale zu entdecken war.

„Keine Lieder über Liebe“ von Lars Kraume erzählt zwar die uralte Dreiecksgeschichte vom Leid an der Liebe, aber indem er Jürgen Vogel, Heike Makatsch und Florian Lukas ihre Dialoge improvisieren ließ und die Kamera sie dabei eher dokumentarisch begleitet als stilisiert in Szene setzt, wirkt sein Film sehr spontan und wie aus dem Ärmel geschüttelt.

Ein junger Filmemacher will da sein erstes Werk über die Tournee einer Rockband machen, deren Leadsänger sein Bruder ist. Er macht den Fehler, auch seine Freundin zu den Dreharbeiten einzuladen, und das führt zu den vorhersehbaren Konsequenzen. Vogel, Makatsch und Lukas turteln, streiten, philosophieren und lamentieren dabei manchmal etwas zu ungebremst und langatmig. Aber dafür trifft der Film wunderbar die Stimmung einer Band auf Tournee mit der Aufregung vor und während des Auftritts, den Besäufnissen nach den Konzerten, tristen Hotelzimmern und langweiligen Busfahrten. Und da die Band um Markus Hansen für den Film tatsächlich von Hamburg aus auf Tour durchs tiefste Niedersachsen ging, gibt es nasskalte Bilder von den Straßen und Clubs von Wilhelmshaven, Oldenburg und Bremen sowie umliegenden Landschaften, Stränden und Autobahnen. Und Jürgen Vogel kann tatsächlich gut singen.

Dies blieb der einzige norddeutsche „Heimatfilm“ der Berlinale, obwohl „Durchfahrtsland“ von Alexandra Sell, der im „Forum des jungen Films“ gezeigt wurde, einen noch genaueren Blick auf die deutsche Provinz wirft. Diese liegt allerdings im rheinischen Vorgebirge zwischen Köln und Bonn. Dort, wo die meisten Menschen nur durchfahren, hat die Filmemacherin ein Jahr lang vier Menschen mit der Kamera begleitet.

Die alltäglichen Schicksale der Lokalkrimiautorin, des zwischen zwei verfeindeten Dörfern vermittelnden Pfarrers, des leidenschaftlichen ersten Vorsitzenden eines Spielmannszuges sowie des zarten Jünglings, der während der rauen Rituale des Junggesellenvereins von seiner Karriere als Modedesigner in Mailand träumt, setzt sie dabei so spannend, anrührend und komisch wie großes Welttheater in Szene und reiht sich damit in eine Reihe von genau beobachtenden, unterhaltsamen Dokumentationen aus der deutschen Provinz ein, die in den letzten Jahren auch in den Kinos Erfolge hatten.

Kaum zu ertragen war dagegen die ebenfalls von nordmedia geförderte Dokumentation „Lost Children“ von Ali Samadi und Oliver Stolz. Vier Kinder aus Uganda, die von Rebellen entführt und dazu gezwungen wurden, als Kindersoldaten in ihren Dörfern zu töten, wurden nach ihrer Flucht in einem Heim aufgenommen. Die zwischen acht und 15 Jahre alten Kinder schildern barbarische Gräueltaten, die sie zum Teil selber ausführen mussten, und genauso furchtbar wie diese Beichten dieser mordenden Opfer sind deren schon viel zu alten Gesichter mit den Augen, in denen sich ihre verwüsteten Seelen widerspiegeln.

Mit „Hotel Rwanda“ und „Sometimes in April“ im Wettbewerb waren Filme über Afrika, in denen von den Opfern der politischen Gewalt erzählt wird, eines der wichtigsten Themen der Berlinale, und „Lost Children“ ist in dieser Reihe wohl der radikalste Beitrag, der das Leid und die Brutalität am tiefsten auslotet.

In der hauptsächlich für ausländische Fachbesucher und Journalisten eingerichteten Sektion „German Cinema“ war seltsamerweise neben „Napola“ und „(T)Raumschiff Surprise“ auch der kleine Spielfilm „Make My Day“ der Hamburger Filmemacherin Henriecke Goetz zu finden, in dem sie subtil davon erzählt, wie eine in Berlin lebende junge Koreanerin durch eine ungewollte Schwangerschaft ins Chaos abdriftet.

Ein Programmschwerpunkt der Sektion Panorama ist traditionell das schwul/lesbische Kino, und in diesem Jahr wurden hier gleich zwei „norddeutsche“ Filme gezeigt. Der Hamburger Jochen Hicks hatte schon 1998 mit „Sex/Life in L.A.“ einen Dokumentarfilm über schwule Pornodarsteller gedreht und untersucht nun mit der Fortsetzung „Cycles of Porn“, der unter anderem von der Medien- und Filmgesellschaft Schleswig-Hostein gefördert wurde, zum einen, was aus einigen seiner damaligen Protagonisten geworden ist, und zum anderen, wie sich die schwule Pornoindustrie durch das Internet geändert hat.

Für die von nordmedia geförderte Dokumentation „Gender X“ war Julia Ostertag ein halbes Jahr lang in Berliner Clubs unterwegs, wo sie Menschen fand und porträtierte, die ihr Geschlecht selber bestimmen wollen und als Transsexuelle, Drag Queens oder Tunten nach ihrer ganz eigenen Fasson leben.

Selten waren auf der Berlinale so viele, so unterschiedliche Filme aus Norddeutschland zu sehen, und da keiner von ihnen enttäuschte, war auch das „Jahr nach der Wand“ ein gutes Jahr.

Wilfried Hippen