KIRSTEN FUCHS über KLEIDER
: Wir werfen keine Geschichten weg

Wir sollen uns nehmen, was uns gefällt und passt, sagt Lauras Mutter. Das gefällt und passt uns überhaupt nicht

Nicht völlig überraschend, aber trotzdem sehr plötzlich starb meine Freundin Laura an ihrem Scheißkrebs. Wir haben immer „Scheißkrebs“ dazu gesagt und kämpferisch geflucht. Jetzt ist mir nicht mehr nach fluchen. Scheiße.

Zwei Wochen nach ihrem Tod trifft sich der engere Kreis – Freunde und Verwandte –, um ihre Wohnung aufzulösen. Bewohnt sie nicht mehr. Auflösen. Lauras Mutter beauftragt mich und Anne, den Kleiderschrank durchzugehen. Trägt Laura alles nicht mehr.

Auflösen. Wir sollen uns nehmen, was uns gefällt und passt, sagt Lauras Mutter. Das gefällt und passt uns eigentlich alles überhaupt nicht. Dass Laura weg ist. Da stehen wir nun vor dem Schrank, den wir beim Einzug mit hochgetragen haben.

Uns sind Tanten und Großeltern gestorben. Aber deren Wohnungen wurden von anderen aufgelöst. Deren Kleidung war die Kleidung alter Menschen. In Lauras Schrank liegen sehr bunte, sehr gestreifte Sachen, sehr schöne Leinenhosen und auch sehr sexy Kleider.

Anne und ich sehen uns an. Ich weiß nicht, ob es angebracht ist zu sagen, dass ich Laura leider nie in einem der schönen Kleider gesehen habe. Werde ich auch nicht mehr. Wir beginnen zu sortieren, einfach nur nach T-Shirts, Hemden, Hosen, Unterwäsche, weil wir dabei nichts entscheiden müssen, weil klar ist, was ein T-Shirt und was eine Hose ist. Der Rest ist nicht klar. Was sollen wir auch entscheiden? Wegwerfen? Erben?

Ich will von Laura nichts erben. So war das nicht vorgesehen. Ich will aber auch nichts wegwerfen. Wie können Anne und ich entscheiden, was unbrauchbar ist, wo doch immer weniger von Laura bleibt, je mehr wir wegwerfen? Auflösen.

Lauras Mutter ist da anders. Sie wirft weg, weg, weg, weg. Trotzdem wächst auch der Haufen mit Andenken. Auch die anderen Freunde und Verwandten, die mithelfen, füllen langsam Mülltüten mit Linealen und Telefonnotizen von Laura, Krikel, Krakel, Sternchen gemalt. Weg. Anne und ich fangen nach einer Stunde an, endlich auszusortieren, die Unterwäsche, komplett. Weg. Ausgeleierte Pullover. Zu vielen Kleidungsstücken gibt es eine Geschichte, Einkaufsbummel, See, Streit, Festlichkeit, Urlaub. Wir werfen keine Geschichten weg, nur das Hemd. Wir grenzen die Masse an Andenken ein, und dann teilen wir auf.

Janina will nichts von den Sachen. Sie steht im Türrahmen und schüttelt den Kopf, als ob es um Leichenfledderei geht. Aber was sollen wir alles in die Altkleidertonne werfen? Ich hatte einige der T-Shirts sowieso schon an, ausgeborgt und gewaschen zurückgegeben. Laura hätte nichts dagegen, und ich will sie bei mir behalten, auch wenn sie weg ist. Unsinn, irgendwie. Laura hat immer gesagt, ich solle mal was Gelbes anziehn. Mach ich jetzt. Ich hätte mir die gelbe Strickjacke nie selber gekauft. Wir sortieren noch für andere Freundinnen aus: Klara, Mandy, Ulrike. Zwischendurch will ich auf einmal alles selber haben, wie ein unlogischer Raff-Anfall, und dann will ich plötzlich gar nichts haben. Nichts. Weg ist weg, soll es auch weg sein.

Alles erscheint viel zu bedeutungsvoll. Immerzu könnte ich seufzen. Pulswärmer, der letzte Spaziergang, Ringeltop, Sommer im Garten, Grillen, die Strickmützen, Chemo. Irgendwann ist alles aufgelöst, und wir fühlen uns besser, weil wir etwas getan haben. Mehr gibt’s nicht zu tun.

„So!“, sagen wir. So! Dann gehen wir aus der Wohnung. Aufgelöst. Ich nehme alles, was ich haben durfte, dankbar und schwer mit mir. Zu Hause vor dem Spiegel werden Lauras Sachen beim Anprobieren so schwer, dass ich lange in der Hocke vor dem Spiegel bleibe und warte. Ich sitze mir gegenüber, da bin ich nicht allein. Lauras Oberteile haben Laura am besten gestanden. Ich brauche überhaupt gar kein weiteres Kleidungsstück, kein einziges, nur Laura.

„Du bist zu dünn!“, hat sie immer gesagt. Mir rutscht ihre Hose. Ich kann die Leere in ihrer Kleidung nicht füllen. Ich hocke und warte, dass ich in die Situation reinwachse. Ich habe auch einen Gürtel von Laura. Der hält die Hose und mich zusammen.

Fragen zur Auflösung? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über KLATSCH