Die Zeitung von gestern

oder Was einem bleibt

Von Joseph von Westphalen

Nichts ist falscher als der Satz, dass nichts älter sei als die Zeitung von gestern. Eine dumme Lüge, mit der Chefredakteure schüchterne Praktikanten und Volontäre immer wieder unter Druck setzen: »Los, los, krieg das raus, häng dich rein, häng dich ran, das steht morgen im Blatt, sonst können wir die Meldung vergessen«, schnaubt der Chef und würde die Tür zuknallen, wenn es in den großen Redaktionsräumen Türen gäbe.

Nur Blattmacher selbst können sich zu einem so unsinnigen Spruch hinreißen lassen. Sie haben gut reden. Sie haben die Zeitungen von gestern und der letzten Zeit stapelweise im Regal liegen, die älteren bequem im Archiv. Einem Leser aber, der nach einer gestrigen Zeitung, geschweige denn nach einer der letzten Woche fahndet, nützt der flotte Hinweis auf das Alter der gesuchten Ausgabe wenig. Für ihn gibt es nichts Vitaleres. Er kämpft quasi um das Leben dieser verschütteten Zeitung, nach der er verzweifelt sucht. Jede Droge ist leichter zu bekommen als eine Zeitung von gestern. Es gibt keinen Schwarzmarkt. Während ich an jeder besseren Straßenecke für ein Trinkgeld die aktuelle Tageszeitung bekomme, ist die Zeitung von gestern ist im wahrsten Sinne des Wortes unbezahlbar. Ich kann dem Mann am Kiosk den hundertfachen Preis bieten. Er wird den Kopf schütteln und mich für pervers halten.

Rätselhaft ist das logistische Wunder, täglich ein paar hunderttausend Exemplare einer Zeitung wenige Stunden nach dem Druck so perfekt zu vertreiben, dass fast an allen Orten des Landes oder der Welt, wo es eine Nachfrage gibt, auch das Angebot besteht, diese Zeitung zu kaufen. Ebenso rätselhaft aber ist das spurlose Verschwinden all dieser Exemplare am anderen Tag. Zünftige Zeitungsmacher empfehlen, mit alten Zeitungen feuchte Schuhe auszustopfen, Fenster zu putzen und Heringe einzuwickeln. So viele feuchte Schuhe, Heringe und schmutzige Fenster gibt es nicht. Wo sind all die Zeitungen von gestern hin? Man frage seinen netten Nachbarn nach der Zeitung vom letzten Wochenende. Das Altpapier ist noch nicht abgeholt. Er wird sie so wenig finden wie man selbst.

Später mehr vom Wert alter Zeitungen. Zunächst einmal hat eine Tageszeitung Neuigkeiten zu melden. »Newspaper« heißt sie im Englischen. Auch im deutschen Sprachraum bringen manche Zeitungen schon im Titel zum Ausdruck, dass es sich um »neue« oder »neueste« Nachrichten handelt. Und wenn sie das marktschreierische Gütesiegel in ihrem Namen vermeiden, so ist Aktualität doch eine Selbstverständlichkeit für jede Zeitung. Das Schnell-, Schneller-, Am-schnellsten-Sein ist ein sportlicher Ehrgeiz.

Natürlich sieht eine Zeitung alt aus, die einen am späten Nachmittag verkündeten Rücktritt von Angela Merkel von allen Ämtern am nächsten Tag nicht im Blatt stehen hat – oder die spannendere Nachricht verschläft, dass Bin Laden von einem Drogenfahnder beim abendlichen Streifengang in einer Hamburger Sozialwohnung festgenommen wurde. Dergleichen aber geschieht nicht alle Tage. Und so ist es Aufgabe der Zeitung, auch an ereignisärmeren Tagen ihre Leser in jenen Zustand zwischen wohliger An- und Entspannung zu versetzen, in den sie kein Fernseh- oder Computerbildschirm der Welt – und auch kein Buch versetzen kann.

Die Gerüche und Geräusche des Frühstücks gehören zur Zeitung. Mit dem Kaffee oder Tee schlürft und verschlingt man in einer Mischung aus Eile und Ruhe die frischen Meldungen. Wenn ich einen Werbefilm für eine Tageszeitung zu drehen hätte, würde ich ein Paar zeigen, das gestritten hat und sich während des Zeitunglesens beim Frühstück wieder näher kommt: Jeder in seine Seiten vertieft, gelegentliches Rascheln der Zeitung und der Brötchentüte, langsamer werdendes Kauen, wenn die Lektüre spannend wird, die Tasse lange ohne zu trinken am Mund – dann beendet einer der beiden die Stille und liest einen Satz vor, vielleicht aus einer Bekanntschaftsanzeige: »Schweigsamer Mittvierziger möchte von beredter Sie aufgetaut werden.« Ein Friedensangebot! Mit dem Zitat ist der Konflikt beendet, danach ist das Schweigen nicht mehr eisig, sondern einträchtig. Oder, ein anderer Spot: zwei Frischverliebte, die sich neben einer unberührten Zeitung tief in die Augen lächeln, und dazu der Kommentar: »Der einzige Nachteil dieses ansonsten himmlischen Zustands ist, dass man morgens nicht zusammen gepflegt Zeitung lesen kann. Käme einem profan vor.«

Manchmal sind die Meldungen fürchterlich. Aber selbst wenn von Massakern oder Naturkatastrophen berichtet wird, bewahrt man als Zeitungsleser noch eine gewisse Fassung, der Schrecken ist vergleichsweise keusch. Eine anständige Zeitung lässt den Opfern noch ihre Würde, man liest mit stiller Teilnahme und ist noch nicht der Gaffer, zu dem einen das Fernsehen macht. Manchmal scheint nichts Schlimmes passiert zu sein auf der Welt. Nur ein Roman wird genüsslich verrissen, oder ein Sportler hat versagt und darf in einem seitenlangen Interview seine Seelennot vor der Nation ausbreiten. »Wann wird einem Dichter nach einem Missgeschick ein solcher Platz eingeräumt?«, fragt man sich und muss auch schon los.

Kaum ein Mensch hat am Morgen ausreichend Zeit für die Lektüre der Zeitung. Der Stress der Macher entspricht dem der Leser. In einer halben oder einer ganzen Stunde kann auch der Schnellleser nur einen Bruchteil dessen aufnehmen, was eine Zeitung zu bieten hat. So bleiben dem flüchtigen Überblick zuliebe zwei Dutzend lesenswerteste Artikel angelesen, drei Dutzend ungelesen, und wenn in der großen Welt genug los war, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln, werden die provinziellen Hiobsbotschaften oder Erfolgsmeldungen auf den Lokalseiten gar nicht mehr wahrgenommen.

Mit dem letzten Schluck Kaffee ist der Hunger nach Neuigkeiten gedeckt, man ist notdürftig informiert, an guten Tagen amüsiert, im Idealfall hat man sogar seine Weltsicht kontrolliert und nachjustiert und kann sich obendrein bis zum Mittagessen eine Witzzeichnung merken und sie weitererzählen: taz, Mitte der 1990er-Jahre, als sich die Staaten des ehemaligen Jugoslawien zerfleischten: Bilderbuchpaar im Restaurant vor aufgetragenen Tellern, die der Ober soeben serviert hat. Die steife Zeichnung könnte aus einem altem Benimm-Buch sein. Dazu hat der begnadete Kriki zwei Sprechblasen ersonnen. Gast: »Da ist ja Blut im Salat!« Ober: »Sie haben Balkansalat bestellt.« Nichts gegen Harald Schmidt, aber man kann sich die Welt auch von einem Witz in der Zeitung erklären lassen.

Jetzt aber muss man schleunigst tätig werden. Die Arbeit ruft. Damit hat die Zeitung fürs Erste ihre Schuldigkeit getan. Auch ihre Macher in den Redaktionen sind schon mit der nächsten Ausgabe befasst. Abends wird der Leser seine Zeitung noch einmal zur Hand nehmen, um zu sehen, was es im Fernsehen gibt. Das Fernsehprogramm oder das Einfallen von Besuch oder ein angefangener Roman oder ein Kinobesuch machen das Vorhaben zunichte, wenigstens den Artikel über die Brüder Haffa zu Ende zu lesen, um endlich zu erfahren, wieso die Schlappschwänze von Richtern diese Lackaffen nicht lebenslang in den Kerker schmeißen konnten. Nach dem Kino ein Bierchen, und in der Kneipe wird einem die Zeitung von nächsten Tag angeboten. Damit ist die alte für den aktualitätsfixierten Menschen endgültig passee.

Rentner, Arbeitslose, kinderlose Hausfrauen mit Hochschulabschluss, Cafébesucher und Studenten haben mehr Zeit, sie werden gelegentlich auch am Nachmittag beim Blättern in Zeitungen gesehen. Stolz weisen sie darauf hin, den brillanten Artikel über dieses Schwein von Roland Koch gelesen zu haben, können ihn auf Nachfrage aber nicht wiedergeben. So unkonzentriert kommt man gegen solch dreiste Politfiguren natürlich nicht an.

Man selbst hat sich morgens auf die glatt geordnete jungfräuliche Zeitung gestürzt und, während man sie lesend verwüstete, fast gleichzeitig schon Abschied von ihr genommen. Die tägliche Einsicht, nur einen Bruchteil des Wissenswerten aufnehmen zu können, macht auch den gierigen Leser bescheiden und melancholisch und verleiht der Zeitungslektüre möglicherweise den Reiz aller flüchtigen Begegnungen, die den Traum von einer tieferen Bekanntschaft hinterlassen. Dazu gibt die grausame Kürze der Zeit keine Gelegenheit. Die Zeitung ist ein üppiges Büfett, man hat bezahlt, man kann nehmen, was man will, aber man ist viel zu schnell satt und man muss weiter. Die Sonntagszeitungen leben von der Hoffnung ihrer Leser, wenigstens an diesem Tag mehr Zeit für ein unverzichtbares Ritual zu haben.

Einen Roman kann man auslesen, eine Zeitung nicht. In Erinnerung bleiben ein paar spärliche Informationen, die Unwichtigsten nisten sich besonders penetrant im Gedächtnis ein, zerbröseln aber auch da. Wie viele Dutzend Hotelsuiten lässt sich Jennifer Lopez bei Tourneen vertraglich noch mal zusichern? Die genaue Zahl hat man nach sechs Wochen auch als Starkultverächter vergessen. Aber die entscheidende Lehre aus dieser unkommentierten Minimeldung bleibt dann doch: ab in die Fabrik mit der Schickse! In der TV-Kult-Serie »Sex and the City«, die zu sehen ich trotz Anratens postfeministischer Freundinnen nie Gelegenheit fand, obwohl man, wenn man die Welt verstehen will, leider auch Kultsendungen kennen sollte, kriegt eine der Heldinnen die Krise, als sie bei sich ein graues Schamhaar entdeckt. Diese Information entnehme ich einem Artikel über die Pigmentveränderungen von Haaren beim Älterwerden auf der Wissenschaftsseite der Süddeutschen Zeitung – und sie erfüllt mich mit echter Dankbarkeit. Ich habe sofort einen lebhaften Eindruck von der Serie, ohne je kostbare Zeit mit dem Glotzen einer Folge verloren zu haben.

Festtage des Zeitunglesens, wenn man verreist. Trotz gesundschrumpfenden Services gibt es zum Glück noch genug Zeitungen, die ihre Auflagen durch großzügige Abgabe von Exemplaren an Fluglinien erhöhen. So bekommt der Passagier umsonst auch Blätter, die er sonst nie lesen würde. Allerdings ist das Entfalten der Zeitungsseiten auf den engen Flugsitzen mehr ein Sketch von Loriot und lenkt daher von der Lektüre ab. Obendrein geht das Fliegen zu schnell. Besser vier Zeitungen käuflich am Bahnhof erwerben und acht Stunden mit dem Zug von München nach Kiel fahren. Zwei Stunden pro Zeitung – so wird man ihr einigermaßen gerecht, kann sich in den angenehm unspektakulären Hintergrundbericht über eine spektakuläre Kindsmörderin vertiefen und in die Reportage über eine peruanische Obdachlosenärztin in Berlin.

Bei einer Reise mit dem Auto kann man auch als Beifahrer nicht lesen. Im Auto lesen nur Topmanager – eine Kaste, die keinen Stil hat. Ich sage nur. Esser. Klaus. Mannesmann. Vodafone. Abfindung. Wenn man aussieht, wie eine Kaulquappe, hält man sich natürlich gern eine Zeitung vor den schlauen Kopf und glaubt im Übrigen, das Recht zu haben, sich mit zig Millionen für seine ungünstige äußere Erscheinung entschädigen zu dürfen. Eine Autoreise aber bietet ganz andere und neue Möglichkeiten, die Zeitung zu nutzen. Wenn es der Platz erlaubt, nehme ich auf Reisen einen zweiten Koffer mit. Dieser Koffer ist sehr schwer. Er ist voller gestriger Zeitungen. Ein Schatz. Nicht jedem verrate ich den Inhalt. Man wird sogar von eigenen Familienmitgliedern für verrückt gehalten.

Manchmal beneide ich die Frischen und Munteren, die allen Ballast von sich werfen. Manchmal bedauere ich sie. Ich gehöre nicht zu den cleveren und fixen Leuten, die sich spätestens, wenn die neue Zeitung kommt, von der alten trennen können. Mein Gemüt ist nicht so flott, ich bin ein Archivar, ich komme nicht nach mit dem Lesen. Artikel, die mir wichtig erscheinen, versuche ich zu retten. Das ist in einem Familienleben nicht immer möglich. Es kommt relativ häufig zur Katastrophe: Der Teil einer Zeitung, um dessen Erhalt dringend gebeten wurde, ist unauffindbar. Immerhin schaffen es etliche viel versprechende Seiten auf einen Stapel und entgehen damit der Vernichtung. Dieser Stapel wiegt nach einigen Monaten so viel, dass jedem Koffer der Griff ausreißt. Er kommt in den Koffer mit dem schon ausgerissenen Griff und darf mit in die Ferien.

Nichts ist frischer als eine uralte heimatliche Zeitung an einem Ferienmorgen im Ausland. Jetzt, erlöst von der Tagesaktualität, zeigt sich klarer, was in den Zeitungen an Bleibendem steckt. Als Eichingers Hitlerfilm die Feuilletons beherrschte und die Leute im Osten gleichzeitig in Montagsdemonstrationen den Staat in die Unterhaltspflicht nehmen wollten, schrieb der Historiker Götz Aly in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung, was er darin vermisste: einen Hinweis darauf, dass nicht nur fanatischer Antisemitismus das Nazireich zusammengehalten hatte, sondern auch Versorgungsdenken bzw. das Wohlgefühl vom Nazistaat wirtschaftlich abgesichert zu sein. Monate später, ohne den Bezug auf den längst schon untergegangenen Untergangsfilm und die trostlosen Hartz-IV-Demonstranten, kommen die originellen Gedanken dieses Artikels noch besser zur Geltung. Ich habe in noch keinem Buch so klug und kurz und bündig die Nazizeit erklärt bekommen. Die plausibelste Antwort auf die berühmte Frage Wie konnte es dazu kommen?: das Versorgungsdenken als Keim des Bösen – wenn das keine Ironie der Geschichte ist.

Ehrfurcht vor dem gedruckten Wort wäre bei mancher achtlos in die Papiertonne geworfenen Zeitung angebrachter als vor hunderten hochgehaltener Bücher. Eine Behauptung, die mir als Schriftsteller nicht leicht fällt. Wenn ich genug Zeit hätte, würde ich den Beweis antreten, dass sich in jeder beliebigen Nummer einer passablen Tageszeitung mehr gute Formulierungen finden, mehr Inspiration, mehr originelle Beobachtungen, mehr Geist und weniger prätentiöse Entgleisungen als in einem beliebigen, von Neidern zerpflückten oder Konformisten abgefeierten Roman. Und die Schlagzeile »Weinkrampf an der Schreibmaschine«, wegen der ich einmal die Bild-Zeitung erstand, sagt mir mehr als drei Jahrbücher junger Lyrik.

»Erlesenes erhalten«: Der Slogan kann, was die Tageszeitungen betrifft, nicht wörtlich genug genommen werden. Es ist zum Heulen, was alles sang- und klanglos untergeht, was täglich an Lesenswertem übersehen oder nur überflogen wird. Auch um die Missachtung oder das achtlose Gelesenwerden auszuhalten, haben sich die Zeitungsschreiber angewöhnt, ihre oft glänzenden Gemmen in schon fast selbstzerstörerischer Bescheidenheit für Abfallprodukte zu halten. Man kann daher als Leser nicht genug retten. Die verkohlten Bücher der Anna-Amalia-Bibliothek in Ehren, aber die täglich unbeachtet weggeworfenen Zeitungen sind ein Verlust an Kulturerbe, der auch nicht ohne ist.

These: Zweimal in der Woche glückt einer guten Tageszeitung eine Ausgabe, die neben den unvermeidlichen Plattitüden genug Gedankenreichtum enthält, um das Leben der Menschheit zu verbessern. Wenn sich dennoch nichts ändert, so liegt es allein an der Unfähigkeit, langsam und genau, mit dem Hirn und dem Herzen zu lesen. Wobei die in der Zeitung versteckten Werte tatsächlich erlesen werden müssen, das heißt, man muss beim Lesen denken oder fantasieren oder assoziieren, das dauert dann zwar länger, anders hat es aber keinen Sinn. Oft ist es nur ein hingeschriebener Satz, der dem Autor nichts bedeutete, mir aber neue Türen öffnet.

Ich habe einmal in einer Theaterkritik den Satz gelesen: »Liebe macht nervös, in jedem Alter.« Damit wurde wohlwollend die rasante Handlung eines von Luc Bondy in Paris uraufgeführten Stücks von Yasmina Reza beschrieben. Sechs unscheinbare Wörter nur, die mich noch immer berauschen. Klüger habe ich die Liebe noch nie beschrieben gefunden. Seit Jahrhunderten flüstern uns die kitschigen Poeten zu, dass Liebe blind oder unglücklich macht, rot vor Glück oder gelbgrün vor Eifersucht. Dass sie uns aber immer vor allem nervös macht, ist noch nie so lapidar gesagt worden. Ich habe stundenlang im Internet danach gesucht. Keine seriösen Treffer. Für diese Wortfolge. Ich habe der Kritikerin geschrieben und ihr zu ihren weisen Worten gratuliert (Barbara Villiger Heilig in der NZZ). Sie hat nicht geantwortet. Vielleicht fand sie selbst ihren Satz nicht der Rede wert. Er ist ihr womöglich unterlaufen. Egal. Große Worte für mich. Hilfreich und erhaltenswert. Dafür gebe ich Petrarcas gesammelte Werke hin. Natürlich liest man nicht immer sensibel genug. Wenn ich mich in den Ferien daran mache, den Inhalt meines Zeitungskoffers zu sichten, weiß ich oft nicht mehr, warum ich eine Seite aufgehoben habe. Auch wenn ich den Artikel über die Krise auf dem CD-Markt umkringelt habe, schweigt er. »Haha!«, hatte ich sechs Monate vorher an den Rand geschrieben, jetzt sehe ich nirgends Witz oder Bedeutung oder Information oder Bestätigung. Dafür ist auf der Rückseite eine Buchkritik, die ich damals nicht bemerkt hatte, deren Titel ich mir aber jetzt dankbar einverleibe: »Tragik ist Privatsache.« Genau diese drei Wörter werde ich dem Interviewer entgegenhalten, der mir nach meinem nächsten Roman das Happy End vorwirft. Mein poetisches Programm.

Wenn im Sommer die anderen ans Meer fahren und sich freuen, in einem simplen Adria-Kiosk die aktuelle FAZ zu ergattern, bleibe ich sesshaft, fröne dem Sichten meiner angeblich veralteten, in Wahrheit nur wie guter Wein gereiften und ihren Charakter jetzt erst entfaltenden Zeitungsschätze und versuche mich zu verstehen: Warum habe ich auf einer alten Kinoanzeigenseite die zwei Wörter »Ignoranz tötet« unterstrichen? Das weiß ja nun jeder. Daneben hatte ich »Strauß« geschrieben. Kryptisch. Erst nach mehreren Minuten schärfsten Nachdenkens kam ich dahinter: »Ignoranz tötet« sind Mahnworte der Aidshilfe. Eine Anzeige. Dazu das Foto einer eleganten Kostümfrau mit Sabine-Christiansen-haft übereinander geschlagenen Edelbeinen, die sich ganz offenbar nur für sich selbst und ihr Luxusleben interessiert, aber leider so gut aussieht, dass die Kritik an der ihr unterstellten Ignoranz erstirbt – bei mir jedenfalls. Mit »Strauß« hatte ich Botho Strauß gemeint. Diese ignorante Schönheit sitzt wie in einer Strauß-Inszenierung auf dem Sofa und hatte mich zu einer Romanszene angeregt, die ich nicht näher notiert hatte, die mir jetzt aber wieder einfiel: Während sie schweigend und lässig raucht, werde ich sie von zwei Männern umbuhlen lassen. Einer wirft ihr vor, dass sie mit ihrer Ignoranz tötet, der andere sagt: »Wer solche Lippen, solche Fesseln hat, muss sich nicht auch noch engagieren.«

Qualen mythologischen Ausmaßes überkommen den, der Erlesenes nicht vergessen kann, wenn er sich zu erinnern glaubt, dass er im März, April oder Mai vor zwei Jahren eine für sein Leben ganz entscheidende Weisheit auf einer Zeitungsseite gelesen hat, die nun unauffindbar ist. Da hilft kein Internet. Ich gestehe, dass ich in einem Archiv drei Nachmittage lang immer wieder die fraglichen Monate durchgeblättert habe. Natürlich war es dann Mai gewesen und keine Theaterkritik, sondern eine Todesanzeige, auf der die berühmten Zeilen aus dem »Julius Cäsar« zitiert waren: »Von allen Wundern, die ich je gehört, / Scheint mir das größte, dass sich Menschen fürchten, / Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller, / Kommt, wann er kommen soll.«

Nichts falscher als diese coole Sentenz des alten Shakespeare, die ich in einem kritiklosen Augenblick aus unerfindlichen Gründen gut gefunden haben muss. Da lob ich mir die O-Töne von Sportlern nach Niederlagen: »Was heißt Enttäuschung, es muss weitergehen!«