Plebiszite der Mediendemokratie

Attac ist gar nicht basisdemokratisch, kritisieren Jörg Bergstedt und seine Co-Autoren. Trotzdem erklären sie überzeugend, warum die Manager dieser Bewegung so erfolgreich sind

„Attac im Spannungsfeld zwischen ideologisierten Führungskadern und phantasievoller Basis“ – so einfach, wie im Klappentext suggeriert, machen es sich Jörg Bergstedt und seine Mitautoren zum Glück nicht bei der Analyse der jüngsten sozialen Bewegung in Deutschland.

Im Gegenteil, das Buch „Mythos Attac“ liefert eine sehr präzise Beschreibung professionellen außerparlamentarischen Kampagnenmanagements, wie es nicht nur vom Koordinierungskreis von Attac, sondern in teils vergleichbarer Form auch von Greenpeace praktiziert wird. Ein selbst ernannter Kreis von Personen setzt auf die richtigen Themen, hat Zugang zu den Medien und damit zu Spenden und schafft es, mit „instrumenteller Herrschaft“ in der Öffentlichkeit den Anschein einer breit angelegten basisdemokratischen und bunten Bewegung zu erwecken. Dabei werden alle entscheidenden Fäden von wenigen, de facto nicht abwählbaren Führungspersönlichkeiten gezogen.

Nun kann man das kritisch sehen, so wie die libertär-autonom argumentierenden Autoren der Hintergrundanalyse. Man kann aber auch die Meinung vertreten: Bewegungsmanager setzen Themen und Aktionsformen, um sich über das Medienecho quasi plebiszitär Zustimmung zu organisieren und dann in der modernen pluralistischen Demokratie höchst effizient politisch zu intervenieren. Dennoch werden sie in gewisser Weise demokratisch kontrolliert: Sie können nur so lange politischen Einfluss ausüben, wie es ihnen gelingt, eine große Zahl von Menschen zu mobilisieren.

Die Analyse des Buches, wie etwa das viel gelobte und bei Attac praktizierte Konsensprinzip wirkt, ist sehr aufschlussreich. Es ist offensichtlich ein recht gut funktionierendes Instrument, um die Basis daran zu hindern, die vom Koordinierungskreis gesetzten Themen in Frage zu stellen oder zu kippen. Die Lektüre des Büchleins kann so vielleicht – wenn auch von den Autoren nicht beabsichtigt – helfen, basisdemokratischen Hochmut gegenüber der traditionellen Parteiendemokratie etwas zu dämpfen.

Die innerparteiliche Meinungsbildung in den etablierten Parteien erfolgt eben in der Regel nicht plebiszitär, sondern in einem komplexen Wechselspiel zwischen unten und oben. Diese Form der repräsentativen Demokratie hat ihren eigenständigen Wert und sollte nicht unreflektiert gegen die Funktionsweisen sozialer Bewegungen ausgespielt werden.

Den Recherchen von Jörg Bergstedt und seinen Mitautoren zufolge besteht der Koordinierungskreis und damit das Machtzentrum von Attac aus einigen jüngeren politischen Aktivisten um Sven Giegold aus dem niedersächsischen Verden. Früh haben sie sich zum Ziel gesetzt, soziale Bewegungen professionell zu führen. Dazugestoßen ist Peter Wahl, ein lang gedienter Aktivist vieler sozialer Bewegungen. Er hatte schon 1990 die Nichtregierungsorganisation (NRO) „Weed“ gegründet, die in den letzten Jahren dabei war, in den Lobbyismus abzugleiten. Für ihn kam die Mobilisierungskraft von Attac gerade recht. So konnte er mit neuem Elan an alte Zeiten anknüpfen.

Die Autoren von „Mythos Attac“ versuchen diesen Zusammenschluss aus ambitionierten jungen Bewegungsmanagern und älteren Routiniers ausführlich als Filz und verwerfliches Streben nach hauptamtlichen Jobs zu geißeln. Man könnte den Koordinierungskreis von Attac aber auch als eine Erfolgsgeschichte politischen Unternehmertums begreifen.

Sehr treffend ist allerdings der Verriss einiger politischer Gewichtungen von Attac. So diskutierens- und fordernswert die Tobinsteuer ist, als Allheilmittel zur Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte und zur Schaffung von stabilen Wachstumsbedingungen eignet sie sich nicht. Auch die Hoffnung, dass große Milliardenbeträge an zusätzlicher Entwicklungshilfe die Armut schnell beseitigen könnten, ist ebenso konventionell sozialdemokratisch wie die bei Attac verbreitete Unterscheidung zwischen „raffendem“ spekulativem Finanzkapital und gutem „schaffendem“ produktivem Kapital.

Nur: Finanz- und Handelskapital hat in der ursprünglichen Akkumulation die Schaffung von produktivem Kapital erst ermöglicht. Und heute sind Finanz- und so genanntes produktives Kapital symbiotisch miteinander verflochten. Ohne die Möglichkeit der Absicherung gegen Währungsschwankungen wäre vermutlich die Hälfte der deutschen Exportindustrie in ihrer Existenz gefährdet.

Aus den Reihen von Attac kommen auch – was in dem Buch nicht erwähnt wird – kluge und differenzierte Analysen, so etwa zur Behandlung des öffentlichen Gutes Wasser. Gerade im Bereich der Nord-Süd-Politik jedoch verharrt Attac bei dem, was viele deutsche NROs seit Jahr und Tag sagen. Die neuen Debatten über „Ownership“, Dialog auf gleicher Augenhöhe, Förderung der Interaktion von Diasporagemeinschaften und Heimatländern oder die Formulierung einer Politik, die gezielt mit Reformpolitikern im Süden interagiert (Bsp. Nepad), gehen an Attac weitgehend vorbei.

In ihrem Bemühen, Attac präzise nachzuweisen, dass die Organisation gegen alle möglichen Regeln der korrekt praktizierten Basisdemokratie verstößt, zeigen die Autoren um Jörg Bergstedt leider nicht auf, wie Attac den politischen Diskurs in der Bundesrepublik beeinflusst hat. Immerhin kann Attac für sich zumindest teilweise in Anspruch nehmen, dass eine keynesianisch inspirierte Wirtschaftspolitik langsam eine Renaissance erlebt.

Zudem hat die Auseinandersetzung um Hartz IV bis kurzem noch verdeckt, dass Rot-Grün dabei ist, mit einem gemeinsamen Modell der Bürgerversicherung wieder offensiv für mehr Sozialstaat gegen die neoliberalen Konzepte von CDU und FDP anzutreten. Die sich daraus vermutlich ergebende Polarisierung der politischen Diskussion in Deutschland wird Attac einen erheblichen Teil des Resonanzbodens entziehen, auf den die Organisation bisher zählen konnte.

Insofern könnte Attac in Deutschland das Opfer des eigenen Erfolgs werden, und dann müssten sich die Bewegungs-Profis aus Verden nach einem neuen Betätigungsfeld umsehen. Ob dann allerdings die große Stunde der Basisdemokratie gekommen ist, wie sie die Autoren des Buches „Mythos Attac“ propagieren, wäre noch zu beweisen.

ROGER PELTZER

Jörg Bergstedt: „Mythos Attac. Hintergründe, Hoffnungen, Handlungsmöglichkeiten“, Brandes & Apsel, Frankfurt a. M. 2004. 206 Seiten, 14,90 Euro