Ein bisschen weniger Todesstrafe

VON BERND PICKERT

Die US-Konservativen schäumen vor Wut: Eine „Tyrannei der Gerichte“ sei zu beklagen, erzürnt sich der gescheiterte republikanische Präsidentschaftskandidat Gary Bauer in seinem täglichen Weblog „American Values“ angesichts der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der USA, die Todesstrafe für zur Tatzeit Minderjährige abzuschaffen. Der einzige Ausweg sei, endlich die Zusammensetzung der Gerichte zu verändern. Ein „Verrat“ sei das Urteil, schreibt der konservative Kolumnist Tony Blankley in der reaktionären Washington Times. Als ehemaliger Strafverfolger sei er „davon überzeugt, dass Schöffengerichte von Zeit zu Zeit 16- oder 17jährige Angeklagte vor sich haben, die sich über die üble Natur ihrer Mordtaten völlig im Klaren sind und die es verdienen – nach der Abschluss der ganzen Palette eines rechtsstaatlichen Verfahrens – gegrillt, vergast, gehängt, erschossen, vergiftet oder sonst wie in die Hölle geschickt zu werden.“

Was solch menschenfreundlichen Zorn erregt, ist das am Dienstag vorgestellte Urteil des Obersten Gerichtshofes, der achte Zusatz zur US-amerikanischen Verfassung sei heutzutage so zu interpretieren, dass die Anwendung der Todesstrafe für Verbrecher, die zur Tatzeit noch nicht 18 Jahre alt waren, verfassungswidrig ist. Der Verfassungszusatz verbietet „grausame und ungewöhnliche Bestrafungen“. Noch 1989, als das Oberste Gericht zum letzten Mal über die gleiche Frage zu entscheiden hatte, waren die Richter mehrheitlich zu einer anderen Entscheidung gekommen und hatten die Rechtspraxis jener Staaten für verfassungskonform erklärt, in denen jugendliche Täter exekutiert werden durften.

Knappe Richtermehrheit

Doch die Verfassung, so die argumentiert die Mehrheit der Richter, sei nichts Statisches, sondern bedürfe der ständigen Neuinterpretation. Wenn sich gesellschaftliche Werte und der Anstandsbegriff verändern, dann verschieben sich nach Auffassung der Richter auch die Maßstäbe dessen, was als „grausam und ungewöhnlich“ zu gelten hat. So weit sind sich im Übrigen auch alle Richter bei der ansonsten umstrittenen und mit der knappen Mehrheit von fünf zu vier Richterstimmen gefällten Entscheidung einig – immerhin würden anderenfalls in den USA weiterhin Siebenjährige gehängt werden. Tatsächlich waren sowohl Altersgrenzen als auch Hinrichtungsmethoden immer wieder aufgrund neuerer Interpretationen des achten Verfassungszusatzes modifiziert worden.

Die Richter begründen in ihrer Mehrheitsentscheidung ihre veränderte Haltung gegenüber 1989 damit, dass inzwischen in 30 der 49 US-Bundesstaaten die Hinrichtung Jugendlicher verboten sei – darunter jene 12 Bundesstaaten, die die Todesstrafe ganz abgeschafft haben, und 18, in denen explizit die Hinrichtung minderjähriger Täter verboten ist. Auch in jenen Staaten, in denen diese Strafe noch erlaubt sei, würde sie so selten angewandt, dass ein eindeutiger Trend zu einem nationalen Konsens gegen die Hinrichtung minderjähriger Täter zu erkennen sei, argumentiert die Mehrheit in der von Richter Anthony M. Kennedy vorgetragenen Entscheidung. Offensichtlich sei eine gesellschaftliche Mehrheit sich darin einig, dass Jugendliche grundsätzlich weniger schuldfähig seien. Und weiter: „Ist die verminderte Schuldfähigkeit einmal anerkannt, ist es offensichtlich, dass keine der beiden Rechtfertigungen für die Todesstrafe – Vergeltung und Abschreckung – ausreicht, um diese Strafe an Jugendlichen zu vollziehen.“

Im Übrigen, und gerade diese Begründung löste sowohl innerhalb des Gerichtes als auch in den öffentlichen Diskussionen massiven Streit aus, seien die USA im Aufrechterhalten der Todesstrafe für Minderjährige international völlig isoliert. Die Tatsache, dass in der westlichen Welt, zu deren Wertesystem die USA gehörten, kein einziger Staat mehr die Todesstrafe für minderjährige Täter praktiziere, zeige ebenfalls einen fortschreitenden gesellschaftlichen Wertewandel, der eine Neuinterpretation des achten Verfassungszusatzes zulasse.

Scharfe Minderheit

Der Erste, der von diesem Urteil profitiert, ist Christopher Simmons, heute 29. Er war wegen der brutalen Ermordung einer Frau 1993 – er war zur Tatzeit 17 – in Missouri zunächst zum Tode verurteilt worden. Der Oberste Gerichtshof Missouris hatte die Strafe unter Bezug auf seine Jugendlichkeit aufgehoben und den Fall mit der Bitte um Neuentscheidung an den Obersten Gerichtshof verwiesen. Insgesamt 72 Jugendliche, die derzeit in verschiedenen Bundesstaaten in der Todeszelle sitzen, dürfen nun nicht mehr hingerichtet werden. Ihre Strafen – soweit überhaupt alle Instanzen bereits ausgeschöpft sind – werden umgewandelt in lebenslange Haftstrafen ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung. Am stärksten betroffen ist davon Texas, wo 29 Menschen wegen als Minderjährige begangener Taten auf ihre Hinrichtung warteten, und Alabama mit 14 ehemals minderjährigen Tätern. In Texas allein waren 13 der insgesamt 22 seit der Wiedereinführung der Todesstrafe hingerichteten minderjährigen Täter umgebracht worden.

In einer scharf formulierten Minderheitsmeinung protestierten die als konservativ bekannten Richter Antonin Scalia, Clarence Thomas und der Vorsitzende Richter William Rehnquist gegen die Mehrheitsentscheidung. Sie machen schlicht eine andere Rechnung auf: Lediglich 18 der 37 US-Bundesstaaten, die überhaupt die Todesstrafe anwenden, verbieten derzeit die Hinrichtung Minderjähriger – und das seien schließlich gerade einmal 47 Prozent. „Worte haben keine Bedeutung, wenn die Ansichten von weniger als 50 Prozent der Todesstrafenstaaten einen nationalen Konsens bedeuten“, schreibt Scalia.

In ihrem eigenen Minderheitenvotum erkennt Richterin Sandra O’Connor zwar die Methodik an, den achten Verfassungszusatz stets neu zu interpretieren. Auch sie hält allerdings die Interpretation des „nationalen Konsenses“ für falsch und gibt zu bedenken, wenn man Trends gefolgt sei, hätte man Anfang der 70er-Jahre die Todesstrafe gänzlich abschaffen müssen – was ihrer Ansicht nach ein schwerer und überdies fast irreparabler Fehler gewesen wäre.

Weniger Hinrichtungen

Todesstrafengegner freilich hoffen, dass die jüngste Entscheidung des Gerichtshofes ein weiterer Schritt in genau diese Richtung ist. Immerhin haben alle Grundsatzentscheidungen der letzten Jahre die Anwendung der Todesstrafe in den USA weiter eingeschränkt. Im vergangenen Jahr wurden in den USA insgesamt 59 Menschen hingerichtet – so wenige wie noch nie zuvor seit Wiedereinführung der Todesstrafe 1976. Dazu beigetragen haben zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahre, die das System der Todesstrafe insgesamt in Frage gestellt haben: Etliche Fehlurteile konnten nachgewiesen werden, DNA-Tests entlasteten dutzende bereits rechtskräftig verurteilte Todeskandidaten, und der Gouverneur des Bundesstaates Illinois sah sich anhand der Vorwürfe gegen das Justizwesen im Frühjahr 2003 veranlasst, gleich pauschal alle Insassen der Todeszellen zu lebenslangen Haftstrafen zu begnadigen.

Gegner der Todessstrafe befürchten freilich auch, die Anpassungen in den Verfahren dienten indirekt gerade dem Zweck, an der Todesstrafe grundsätzlich festzuhalten. „Der Trend scheint zwar in Richtung der Abschaffung der Todesstrafe zu gehen“, zitiert die New York Times etwa den Professor Rory K. Little vom Hastings College of Law in San Francisco, „aber es wäre ein Fehler, zu glauben, dass diese Entscheidungen unausweichlich zur Abschaffung führen.“ Möglich wäre seiner Ansicht nach auch, dass das System durch die Eindämmung der gröbsten Widersprüche so angepasst wird, dass der Druck für die Abschaffung verpufft.

Rollback ist zu befürchten

Die Frage ist, wie sich die jüngste Verschiebung der politischen Verhältnisse in den USA auf die gesellschaftliche Meinung auswirkt. Die Mehrheit der republikanischen Wähler gehört traditionell zu den Befürwortern der Todesstrafe. Und die Republikanische Partei als solche hält den Gedanken der Resozialisation von Schwerverbrechern ohnehin für vergebene Liebesmüh. In ihrem beim Parteitag in New York im September vergangenen Jahres verabschiedeten Programm heißt es: „Wir stimmen überein, das die beste Art, das Verbrechen einzudämmen, die Durchsetzung der Gesetze ist und die harte Bestrafung eines jeden, der ein Verbrechen mit einer Waffe begeht. … Wir unterstützen die Möglichkeit von Gerichten, bei Kapitalverbrechen die Todesstrafe zu verhängen.“ Dazu kommen jene Fanatiker wie der im November in den Senat gewählte Tom Coburn aus Oklahoma, die zwar als radikale Abtreibungsgegner den Schutz des ungeborenen Lebens hochhalten – für Abtreibungsärzte jedoch die Todesstrafe fordern.

Wenn sich in den inzwischen mit deutlicher Mehrheit republikanisch regierten Bundesstaaten die Rechtsauffassung zur Todesstrafe in den nächsten Jahren wieder ändern sollte und zudem Präsident George W. Bush in dem Bestreben obsiegt, auch den Obersten Gerichtshof noch konservativer zu besetzen als bisher, ist auch ein Rollback der Rechtsprechung in Sachen Todesstrafe nicht völlig auszuschließen. Dazu allerdings muss zunächst die Geschäftsordnung des Senats geändert werden, damit die demokratische Minderheit keinerlei Blockademöglichkeiten mehr hat. Entsprechende Initiativen sind bereits in Vorbereitung.