„Es gibt keinen Bürgerkrieg im Libanon“,sagt Randa Aractingi

Der Tod von Ex-Regierungschef Rafik Hariri ist nicht Grund, sondern nur Anlass für die Massendemos in Beirut

taz: Wie erklären Sie die Massendemonstrationen – war Ex-Regierungschef Rafik Hariri so beliebt im Volk?

Randa Aractingi: Das glaube ich nicht, wenigstens nicht gegen Ende seiner Amtszeit. Aber sein Tod wird als Anlass genutzt. Hariri hat als Premierminister stets die Interessen des Staates mit seiner eigenen Tasche durcheinander gebracht. Der wahre Grund für seinen Amtsrücktritt war ein Konflikt mit dem Präsidenten. Emile Lahoud hatte nach der Privatisierung der Mobiltelefone Hariri daran gehindert, die beiden zur Verfügung stehenden Sendefrequenzen an Telefongesellschaften zu vergeben, die engen Verwandten von ihm gehören. Hariri war ein Dieb.

Glauben Sie, dass der Rest der libanesischen Bevölkerung diese Ansicht teilt?

Die meisten würden sagen, ja, es ist wahr, dass er korrupt war und viel Geld genommen hat, aber er hat den Staat aufgebaut und hat uns Frieden gebracht.

Trotzdem finden die Massenproteste nicht aus Trauer um ihn statt?

Libanon ist ein Mosaik von kleinen Gemeinden, politischen Gruppen und vielen Meinungen. Erst innerhalb der letzten Jahre haben sich die Leute wieder zusammengefunden, um politisch zu diskutieren. Wir sind mit 40 Milliarden Dollar verschuldet. Grund dafür ist die Korruption, die von Syrien zusätzlich angetrieben wird. Syrien holt rund 2 Milliarden Dollar jährlich aus dem Libanon, und er wird immer ärmer. Dagegen formiert sich der Protest. Christen, Maroniten, Drusen – alle stehen heute auf derselben Seite. Es gibt eine Volksbewegung, die ihre politischen Führer unter Druck setzt, ihr zu folgen.

Warum erst jetzt?

Ich glaube nicht, dass wir den Mut gehabt hätten, heute auf die Straße zu gehen, wenn uns nicht die USA und Frankreich den gedeckt hätten. Uns ist klar, dass Syrien uns jederzeit bombardieren könnte. Wenn uns niemand zu Hilfe kommt, dann sterben wir. So ist es seit 20 Jahren.

Das Ende der Besatzung steht bevor. Wer kontrolliert den Abzug?

Die syrische Besatzung ist eine militärische, aber die Syrer kontrollieren auch die Geheimdienste. Laut dem Taif-Abkommen von 1989 müssen die libanesischen Offiziere vom syrischen Geheimdienst ausgebildet werden. Eine zentrale Forderung der Opposition ist deshalb die Auflösung der Geheimdienste. Die Frage, die sich uns stellt, ist, wie weit wir uns vorwagen können. Wir haben immer in Angst gelebt, darum sind die Leute auch jetzt beunruhigt.

Besteht die Gefahr eines Bürgerkrieges?

Nein. Es gibt einen Konsens: Wir haben den Bürgerkrieg versucht und nichts ist dabei herausgekommen.

Wie ist das Verhältnis zwischen der Hisbollah und der Opposition?

Im Moment geht man sehr behutsam miteinander um. Die Opposition hat der Hisbollah vorgeschlagen, sich ihr anzuschließen. Die Parteiführung ist in einem Dilemma: Sie will einerseits dem Volk entgegenkommen, andererseits Damaskus nicht vor den Kopf schlagen. Aber vor ein paar Tagen haben Schiiten in Kana, einer Gegend, in der die Hisbollah stark ist, ein Denkmal des syrischen Expräsidenten Hafis al-Assad gestürzt. Die Schiiten sind arm und leiden ganz besonders unter der wirtschaftlichen Situation.

Wird die Hisbollah durch den Tod Hariris geschwächt?

Was die Hisbollah schwächt, ist die Schwächung Syriens. Hariri hat die Hisbollah unterstützt, weil sie im Volk beliebt ist. Sie hat viel für die schiitische Bevölkerung getan. Als Nation können wir nicht zustimmen, was mit den Palästinensern passiert, und es gefiel uns auch nicht, dass Israel uns bombardiert oder unser Land und Wasser stiehlt. Im Übrigen wird die Hisbollah hier nicht als Terrororganisation betrachtet, sondern als eine demokratische Parlamentspartei. Sie haben christliche Vertreter.

Und Frauen?

Sie würden staunen.

Tatsächlich?

Frauen werden in die Schulen geschickt und ausgebildet …

aber nicht zu Politikerinnen.

Das ist ein parteiübergreifendes Problem. Die griechischen Katholiken stellen auch keine Frauen auf.

Was erwarten Sie von den Wahlen – gibt es Umfragen?

Es ist nicht klar, ob die Wahlen wie geplant im Mai stattfinden werden, da das neue Wahlrecht noch nicht modifiziert wurde. Es gibt bislang keinerlei Umfragen. Fest steht, dass sich bei demokratischen Wahlen die Regierungspolitik am Volk orientieren muss, was jetzt nicht passiert. Hariri war ein guter Premierminister, wenn es um den Bau von Straßen und Flughäfen ging. Aber wir haben kein vernünftiges Rechtssystem, keine guten Schulen und so weiter.

Werden die Entwicklungen im Libanon den Weg zu einem Frieden mit Israel ebnen?

Ein zentraler Punkt bei einem Friedensabkommen mit Israel ist die Frage der zwischen 300.000 und 400.000 palästinensischen Flüchtlinge, die im Libanon leben. Mit einem Friedensabkommen würde Libanon sich bereit erklären, die Flüchtlinge im Land zu behalten, was nicht sehr populär ist, weil es das Gleichgewicht verändern würde. Die Palästinenser sind Sunniten. Das ist ein wichtiger Faktor. Manche Leute sagen sogar, dass Hariri getötet wurde, weil er damit einverstanden war, dass die Palästinenser im Libanon bleiben.

INTERVIEW: SUSANNE KNAUL