Feuer frei auf die befreite Geisel

Nach den US-Schüssen auf Giulina Sgrena ist Italien empört. Sogar Berlusconi ist wütend auf die Amerikaner. Deren Erklärungen glaubt niemand

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Direkt hinter der engen Kurve kurz vor dem Bagdader Flughafen leuchtet plötzlich das gleißende Licht eines Scheinwerfers auf. Zahlreiche Schüsse werden auf ein langsam fahrendes Auto abgefeuert. Schüsse, die den italienischen Geheimdienstoffizier Nicola Calipari sofort töten, den italienischen Fahrer des Wagens und Giuliana Sgrena verletzen, die eben erst von ihren Geiselnehmern freigelassene Mitarbeiterin der Zeitung il manifesto und der Zeit.

Es war Freitagabend, als sich der glückliche Ausgang der Entführung Sgrenas von einer Minute zur anderen in eine Tragödie verwandelte. Italien hatte schon begonnen zu feiern. In den Nachrichtensendungen um 19 Uhr verlasen freudig erregte Sprecher die Meldung; in der Redaktion des manifesto knallten die Sektkorken; in Rom ließ der Bürgermeister Walter Veltroni sofort das Kolosseum illuminieren. Im Sitz des Ministerpräsidenten saßen der eilig herbeigerufene Chefredakteur des manifesto, Gabriele Polo, und der Lebensgefährte Sgrenas, Pier Scolari, mit Ministerpräsident Silvio Berlusconi zusammen, als plötzlich der Chef des militärischen Geheimdienstes Sismi hineinstürzte. Er hatte gerade einen schockierenden Anruf erhalten. „Nicola ist tot, ich stehe hier, eine MP ist auf mich gerichtet.“ Mehr konnte der Fahrer des Wagens, der Sgrena zum Flughafen bringen sollte, nicht sagen: Die US-Soldaten nahmen ihm das Satellitentelefon weg.

Nur in einem Punkt stimmen die amerikanische und die italienische Version über den dramatischen Epilog der Sgrena-Befreiung überein: Amerikanische Soldaten feuerten eine Salve auf das Auto der Italiener. Die US-Streitkräfte im Irak ließen schon unmittelbar nach dem Vorfall mit verdächtiger Schnelligkeit wissen, was sich angeblich zugetragen hatte. Der mit hoher Geschwindigkeit kommende Wagen sei angestrahlt und zum Halten aufgefordert worden, die Soldaten hätten auch Handzeichen gegeben und dann erst auf den Motorblock gezielt, um das Fahrzeug zum Stehen zu bringen.

Mit dieser Erklärung aber will sich die italienische Regierung nicht zufrieden geben. Noch am Freitagabend bestellte ein wutentbrannter Berlusconi den US-Botschafter in Rom ein und forderte rückhaltlose Aufklärung. Ein Forderung, der die US-Regierung verbal entgegenkommt: Sowohl Präsident Bush, der umgehend in einem Telefonat mit Berlusconi sein „Bedauern“ äußerte, als auch Außenminister Condoleezza Rice versprachen eine Untersuchung. Am Samstag hieß es dann, das Ganze sei „nur ein unglücklicher Unfall“ gewesen; zugleich erteilten sich die US-Truppen Selbstlob dafür, dass „Frau Sgrena vor ihrer Rückkehr nach Italien durch die Ärzte der Koalition betreut wurde“.

Die römische Staatsanwaltschaft dagegen hat sofort Ermittlungen wegen Mordes aufgenommen und noch am Samstag die gerade nach Rom zurückgekehrte Giuliana Sgrena in dem Militärhospital vernommen, in dem die Journalistin behandelt wird. Die Darstellung, das italienische Fahrzeug habe einfach einen US-Checkpoint ignoriert, erscheint als allzu unglaubhaft. Dagegen stehen nicht nur die Zeugenaussagen der beiden Überlebenden: Sie sprechen von langsamer Fahrt bei strömendem Regen und Dunkelheit; sie berichten, nicht um einen Checkpoint habe es sich gehandelt, sondern um eine Patrouille, bestehend aus einem Panzer und einem Panzerwagen; sie erklären, das Feuer sei sofort eröffnet worden, von sehr jungen Soldaten, wie sie später wahrnahmen. Auch andere Fakten widersprechen der US-Version. Das US-Kommando war über Nicola Caliparis Mission informiert: Der Offizier hatte sich unmittelbar nach seiner Ankunft in Bagdad am Freitag einen Anstecker abgeholt, der ihn autorisierte, sich bewaffnet in der Stadt zu bewegen, und angeblich wurde er auf der Rückfahrt im Flughafen von einem italienischen Verbindungsoffizier zu den US-Truppen sowie von einem US-Offizier erwartet. Kaum glaubhaft auch, dass der äußerst irakerfahrene Calipari einfach ein Haltegebot der US-Truppen ignoriert hätte.

Und schließlich gibt auch der Ort des Vorfalls zu denken. Gewiss, die Straße von der Stadt zum Flughafen gilt als eine der gefährlichsten Bagdads; zahlreiche Anschläge wurden hier immer wieder verübt. Gefahr aber droht vor allem auf den ersten 10 Kilometern von der Stadt aus. Sie führen durch dicht bevölkerte Wohnviertel, und sie können auch von Irakern befahren werden. Dann aber kommt der erste Checkpoint, an dem alle Autos – außer autorisierte Fahrzeuge – anhalten müssen, an dem die Passagiere in streng kontrollierte Busse oder Taxis umsteigen müssen. Die weiteren fünf Kilometer – sie führen nicht mehr durch Wohnviertel, sondern durch die US-Basis „Camp Victory“ – gelten als sicher; zwei weitere Checkpoints gewähren lückenlose Kontrolle, und Zufahrten zur Straße existieren auf diesem Abschnitt nicht.

Die Forderung nach lückenloser Aufklärung eint in Italien die politischen Lager ebenso wie die Trauer um Nicola Calipari. Seine Leiche wurde am Samstag nach Italien zurückgeflogen und am Sonntag in Rom öffentlich aufgebahrt; Tausende Menschen nahmen in einem Defilee von ihm Abschied und Tausende werden heute zu den Beisetzungsfeierlichkeiten erwartet.

Sofort aber brach auch die politische Auseinandersetzung über Italiens Rolle im Irak wieder auf. Berlusconi beschuldigt die Opposition, sie wolle die Tragödie politisch instrumentalisieren, und das Berlusconi-Blatt Il Giornale titelte gestern in makabrer Verkehrung der Tatsachen: „Die Linke eröffnet das Feuer auf die USA.“ Die Stationierung italienischer Truppen im Irak nämlich will die Regierung auf keinen Fall in Frage stellen.