Menschen warten draußen

Hier ein autonomer Kreislauf, dort der Feind von außen – darauf fußt die Metapher vom Ökosystem. Obwohl ein Phantasma, war dieses Schema in der deutschen Geschichte sehr wirkmächtig. Leider

Wie das Paradiesgärtlein und die heilige Familie bedrohen mächtige Feinde auch die Nation als Totalität

VON MICHAEL RUTSCHKY

Cord Riechelmann hat hier neulich das „Ökosystem“ dekonstruiert, einen ideologischen Zentralfetisch der letzten Jahre und Jahrzehnte. Das „Ökosystem“ ist – wenn ich ihn richtig verstanden habe – in der Perspektive der Biologie ein gewählter Ausschnitt, der das Naturgeschehen gezielt zu beobachten erlaubt. Keineswegs ist das „Ökosystem“ eine organische Einheit der Natur selber, ein sich selbst tragender und reproduzierender Organismus, eine autonome Gemeinschaft, eine Totalität.

Die ideologischen Debatten der letzten Jahre und Jahrzehnte dachten diese Gemeinschaft von Naturprozessen stets zusammen mit ihrem Feind, dem Menschen. Durch Intervention, durch landwirtschaftliche Kultivierung (sprich: Ausbeutung), womöglich durch Genmanipulation zerstört er die friedlichen Einheiten der Natur. Schon als Spaziergänger: deshalb sind gewisse Regionen der Nationalparks gesperrt – schon im Berliner Grunewald frönt ein misanthropischer Förster seiner Leidenschaft für Drahtzäune, „hier läuft man ja wie auf dem Gefängnishof“.

Es ergaben sich fruchtbare Allianzen zwischen den Freunden der Natur und einer Verwaltung, die nichts dringlicher liebt als Reglements. Dass irgendetwas nicht stimmt mit der autonomen Gemeinschaft von Naturprozessen, die vom Menschen bedroht und zerstört wird, verrät schon die überstarke Prägnanz des Konzepts. Die Idee einer solchen Totalität scheint eher der Politik, der Soziologie, ja der Theologie zu entstammen. Womöglich handelt es sich um den jüngsten Ableger des Paradiesgartens, den der Mensch einst selbst bewohnen durfte, bevor er der Sünde des Erkennens verfiel.

Oder geht es um das bekannte gallische Dorf, das den Römern, die es unterwerfen wollen, lustig und effektiv Widerstand leistet? Oder befinden wir uns auf Robinsons Insel, die er zu seinem perfekten Lebensraum auszugestalten verstand? In der Soziologie, ebenso im allgemeinen Bewusstsein stößt man sogleich auf die Familie als elementare Einheit. Auch sie scheint Natur; Sexualität und Liebe, die Geburt und Aufzucht der Kinder bestimmen die Lebensregeln, kein abstraktes Recht, das ein ferner Zentralstaat durchsetzt.

Freilich sind auch hier die Feinde nah. Die Nachbarn, ihrerseits familienförmig verfasst, die rücksichtslos ihre eigenen Interessen verfolgen; die moderne Gesellschaft, die selbstbestimmte Individuen benötigt und die schöne naturale Solidarität auflöst; der Staat, der ebenso brutal wie inkompetent in die Familienbelange hineinregiert. So begleitet die Familie in der modernen Welt ein immerwährender Singsang von Kulturkritik, die ihren Verfall als autonome Gemeinschaft, als Totalität beklagt. Die außerordentliche Lebenskraft und Wandlungsfähigkeit der Familie, die sich der ausgehandelten ebenso wie der durch romantische Liebe gestifteten und jetzt sogar der Homo-, ja der „wilden“, nicht geschlossenen Ehe zu bedienen vermag, entgeht dieser Kulturkritik.

Wenn Sie in Ihre Imagination hineinschauen, werden Sie die als autonome Gemeinschaft idealisierte Familie mit einer Wirtschaftsform verknüpft finden: Früher, in der guten alten Zeit lebten die Menschen in Großfamilien, die einen kargen Acker zwecks Ernährung, Bekleidung etc. bewirtschafteten. Das diente ausschließlich der Subsistenz – noch in Marx’ berühmter Analyse des Warenfetischs und seiner theologischen Mucken herrscht dieser Gedanke. Güter, die zum Tausch, gar zum Tausch gegen Geld produziert werden, haben ihre adamitische Unschuld verloren, sind entfremdet, eben Waren geworden, in denen der Tauschwert den Gebrauchswert pervertiert.

Historisch ist das alles Unfug mit der Großfamilie und der Subsistenzwirtschaft (die noch manchem Globalisierungskritiker vorzuschweben scheint). Auch systematisch unterschlägt das Schema, das die Familie als autonome Totalität verhimmelt, einen entscheidenden Punkt. Sigmund Freud hat die Sache Ödipuskomplex genannt, der Anthropologe Claude Lévi-Strauss hat sie an den universalen Exogamie-Regeln studiert: In der Familie herrscht das Inzesttabu, sie kann sich nicht autonom vermehren. Um eine weitere Familie zu gründen, müssen Sohn und/oder Tochter Vater und Mutter verlassen. Auch die Sexualität lässt sich nicht nach dem Prinzip der Subsistenz bewirtschaften.

Hier drohen also keine äußeren Feinde, die schöne Autonomie zu zerstören (obwohl Vater und/oder Mutter den ersten ernsthaften Lover von Sohn und/oder Tochter oft explizit hassen). Die Gemeinschaft war gar nicht auf Autonomie angelegt, als Totalität. Sie ist ein Phantasma.

Auf dieses Phantasma stößt man in vielen Bereichen. Viele der revolutionären Jungakademiker in den Sechzigerjahren studierten Germanistik; die schöne Literatur und die gelehrte Beschäftigung mit ihr versprachen eine Art Studium generale – dass es ausgerechnet um die deutsche Literatur ging, schien eher zufällig.

Das war ein gründliches Missverständnis. Es zog qualvolle Exerzitien in deutscher Sprachgeschichte nach sich; man musste Gotisch, Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch pauken (wobei sich das Althochdeutsch noch in mehrere Dialekte auseinander legte), und die Lautverschiebungen berührten sich in nichts mit den hochinteressanten Fragen, die das Studium Brechts oder Kafkas beantworten sollte.

Der Germanistikstudent der Sechzigerjahre wusste nicht, dass er eine Art Deutschwissenschaft studieren sollte. Der Bischof Wulfila (gotische Fragmente christlicher Texte) und Franz Kafka befanden sich in ein und demselben Raum. Die Germanistik betrachtete die deutsche Sprache und Literatur als Einheit – als „Ökosystem“, genau, als eine quasinatürliche Einheit von Zeichen und Texten, die sich autonom von anderen Sprachen und Literaturen abhob. Wenn sie sich nicht sogar im Kampf gegen jene befand, wie etwa die Sprachreinigungskampagnen des 18. Jahrhunderts lehren (die gegen das Französische gingen). Weil nie etwas völlig verschwindet, könnte man eine Kampagne erwarten, die, parallel zur Quote für deutschen Pop, die Übersetzungen angloamerikanischer Literatur einzuschränken fordert, weil diese die angemessene Versorgung mit einheimischen Produkten behindere …

Die Germanistik gehört in die Geschichte des Nationalismus als Ideologie, und der Nationalismus versuchte so etwas wie ein „Ökosystem“ für den Volksgeist und seine Manifestationen zu erfinden. Deutsche Sprache, deutsche Literatur, deutsche Musik, deutsche Sitten und Gebräuche, deutsche Politik. Der Philosoph Fichte verstieg sich in seinen schaurige „Reden an die deutsche Nation“ (1806/07) zu einer Beweisführung, die das Französische als toten lateinischen Dialekt denunzierte, während das Deutsche eine Sprache voll lebendiger Kraft sei.

Auch hier stellten sich bald spezielle Theorien für das Wirtschaften ein. So wie die imaginäre Großfamilie auf ihrem kargen, aber ehrlichen Acker sollte die Nation ökonomisch autark sein, ihre Wirtschaft autonom betreiben. Import/Export ist unpatriotisch; sie schwächen die Fähigkeiten der Nation, sich selbst zu erhalten. Dabei schließt das Ideal der Autarkie keineswegs aus, dass wir andere Nationen unterwerfen und ausbeuten.

Und wie das Paradiesgärtlein und die heilige Familie bedrohen mächtige Feinde die Nation als Totalität. Was die deutsche Nation angeht, wie gesagt, waren es anfangs vor allem die Franzosen. Bald aber kamen die inneren Feinde hinzu, die der schönen Gemeinschaftlichkeit Abbruch tun – und da boten sich bekanntlich bald die Juden an, weil sie sich bloß zum Schein wie Deutsche benehmen, in Wahrheit aber einer geheimen, weltumspannenden Nation angehören, die in allen einzelnen Nationen nach der Herrschaft greift. Die Nazis haben solche Ideen am weitesten getrieben. Bei ihnen sollte die Nation keine Sache der Sprache, der Literatur, der Philosophie sein, sondern in der Tat eine der Natur, der Biologie, des Blutes, das sich der Sprache, der Literatur, der Philosophie, der Politik bloß als Mittel zum Zweck bedient.

Nein, das ist auch auf dem Feld der Geisteswissenschaften, der Sozialwissenschaften und des Feuilletons ein Schema, das in die Irre führt: dass es perfekte Gemeinschaften, Totalitäten gibt, die sich selbst autonom reproduzieren würden, wären da nicht die äußeren (und inneren) Feinde, die den schönen Kreislauf stören. Schon die Reinigungs- und Abwehrmaßnahmen erzeugen eine unermessliche Unordnung, in der Theorie wie in der Praxis.

Der in dem Text erwähnte Artikel von Cord Riechelmann trug den Titel „Überraschungen der Natur“ und erschien am 1. 2.