Wenn ein Arzt zum ersten Mal tötet

Als junger Anästhesist reduziert er den Sauerstoff am Beatmungsgerät eines Krebspatienten. Er lässt ihn sterben. Bis heute hat er sich das nicht verziehen. Ein Bericht aus dem Krankenhausalltag – von einem Arzt, der anonym bleiben möchte

Es wird wenig darüber gesprochen. Doch es wissen alle, die länger in Krankenhäusern arbeiten: Ärzte töten manchmal Patienten. Sie lassen sterben oder bringen aktiv um. Die Übergänge sind hier fließend.

Keine junge Ärztin und kein junger Arzt ist darauf vorbereitet. Das galt auch für mich. Als gerade fertiger Arzt in der Anästhesie betreute ich tagsüber die Patienten mit Narkose im Operationssaal und versorgte sie nachts auf der Intensivstation, wenn sie sich von schweren Eingriffen nur langsam erholten oder starben. Mit Kaffee und Zigaretten wurden die Dienste auf der abgedunkelten Intensivstation verrichtet: zwei erfahrene Intensivschwestern und ich als Greenhorn inmitten einer Welt von Beatmungs- und Infusionsgeräten, Monitoren und Luftbefeuchtern.

Während man tagsüber die Hilfe der erfahrenen Kollegen jederzeit nutzen konnte, war man nachts allein verantwortlich und auf die routinierten Schwestern angewiesen. Wenn alles gut lief, konnte man gegen Mitternacht ins Bett und überließ die Station den beiden. Eines Nachts saßen wir zusammen, die Schwestern sprachen mich auf den Patienten K. in Bett 3 an. K. war an Enddarmkrebs erkrankt und hatte die Operation nur sehr schwer überstanden.

K., ein 83-jähriger Mann mit einer Vielzahl von chronischen Erkrankungen, konnte aus der Narkose seiner Operation nie richtig aufgeweckt werden. Seine Lungenfunktion war nach dem Eingriff so schwach, dass er weiter beatmet werden musste. Das war aber nur ein Teil seiner Probleme. Der Eingriff selbst hatte nicht das erwünschte Ergebnis gebracht. Und es hatte zusätzlich eine schwere Komplikation gegeben. K.s Darmkrebs, so hatte es sich während der Operation herausgestellt, konnte nur herausoperiert werden, indem man einen dauerhaften künstlichen Darmausgang schaffte. Das ist ein Plastiksack auf dem Bauch, in den der Kot abfließt und der regelmäßig gesäubert werden muss.

K. hatte diesen Eingriff abgelehnt. Er wäre höchstens mit einem vorübergehenden künstlichen Darmausgang einverstanden gewesen und ging davon aus, dass es vielleicht ganz ohne gehen würde. Mit einem dauerhaften künstlichen Darmausgang wollte er auf keinen Fall weiter leben. Dies hatte er den Ärzten vor dem Eingriff im Gespräch klar gemacht. Er war zuckerkrank, hatte einen Herzinfakt gehabt, andere chronische Leiden, er war müde. Seine Lebenserwartung war begrenzt. Er musste fürchten, an Tochtergeschwulsten zu erkranken, die seinen sicheren Tod binnen weniger Monate gebracht hätten. Vielleicht wären ihm auch noch ein paar Jahre geblieben.

Aber mit künstlichem Darmausgang wollte er auf keinen Fall leben, er hatte es oft wiederholt. In der Operation hatte der Chefarzt sich über seinen Wunsch hinweggesetzt. Zuerst hatte alles so ausgesehen, als ob die Ärzte klargekommen wären. Dann stellte sich heraus, dass der Krebs schon tiefer in die Umgebung gewachsen war. Es wäre kompliziert und riskant – aber möglich – gewesen, den Eingriff abzubrechen und die Reste des Tumors im Bauch zu lassen. Der Chefarzt entschied, den Eingriff „radikal“ fortzusetzen, es kam doch zum dauerhaften künstlichen Darmausgang.

Davon wusste K. noch nichts. Er kämpfte vielmehr seit der Operation mit dem Tod, weil sich die Wunde zu allem Überfluss auch noch entzündet hatte. Der Bauch war offen, ein so genannter Platzbauch, und musste in regelmäßigen Abständen gespült werden. Die Lungenfunktion war schlecht, die Infektion nur schwer mit Antibiotika beherrschbar. Eine klassische Abwehrschlacht auf der Intensivstation hatte begonnen.

Wir schrieben das Ende des siebten Tages in dieser Nacht, die ich nie vergessen sollte und die mein Leben veränderte. Heidrun, die erfahrenste Intensivschwester, und Petra, ihre jüngere Kollegin, schlugen vor, K. sterben zu lassen. Seine Überlebenswahrscheinlichkeit war geringer als 20 Prozent, weil seine Lungenfunktion sich nicht zu bessern schien. Würde er die Intensivstation überleben, wären auch seine Lungen auf Dauer durch die lange Beatmung beschädigt gewesen. Ständige Luftnot hätte das Ergebnis sein können. Sicher wäre gewesen, dass er sich über Monate von dem Eingriff in Krankenhäusern und Rehakliniken hätte erholen müssen. Der dauerhafte künstliche Darmausgang war ihm nicht erspart geblieben. Wir waren uns absolut sicher, dass er so nicht hätte leben wollen, wenn er eine Wahl gehabt hätte. Fragen konnte man ihn jetzt nicht mehr, er war in einer Art Dauernarkose. Innerhalb weniger Minuten, ohne lange Diskussion, war der Entschluss gefasst, ihn vor Beginn der Frühschicht sterben zu lassen. Heidrun gab mir quasi den Auftrag, dies zu erledigen. Ich zögerte merkwürdigerweise nicht lange. Es schien alles klar zu sein: K. hätte es so gewollt, und der Tod von K. wäre nur eine Frage der Zeit gewesen. Weshalb sollte es also nicht vor Beginn der Frühschicht passieren. Dann hätte man ihn auch nicht mehr waschen müssen, eine stundenlange Prozedur am Ende der Nachtschicht. Ich reduzierte also den Sauerstoffgehalt in seiner Beatmungsluft und den Druck, mit dem die Luft in seine Lunge gepresst wurde. Dies würde den Sauerstoffwert in seinem Blut weiter sinken lassen, er würde in der Folge durch eine Form des Herzstillstands sterben.

Ein solcher Tod ist schmerzlos und kann nur schwer als unnatürlich nachgewiesen werden, wenn man die veränderten Einstellungen am Beatmungsgerät nicht dokumentiert. Hätte sich die Verschlechterung der Lungenfunktion bei optimaler Beatmung ergeben, wäre mehr oder weniger das Gleiche passiert, jedoch etwas langsamer.

Nach nur wenigen Minuten glaubte ich bereits erste Veränderungen der Haut sehen zu können. Eine Blutgasanalyse hätte hier jeden Zweifel behoben. Wir gingen unserer Arbeit bei den anderen ebenfalls beatmeten Patienten nach. Ich wusste, K. beginnt jetzt zu sterben. Beim Vorbeigehen an seinem Bett warf ich gelegentlich einen Blick hinüber, wie weit er mit dem Sterben war. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Endlich, gegen vier Uhr, ging der Alarm. Herzflimmern war eingetreten. Wir machten keinen Versuch der Wiederbelebung. Die war auch nicht vorgesehen.

Am nächsten Abend saßen wir wieder zusammen. Plötzlich, durch eine Bemerkung einer der beiden Schwestern, begriff ich, dass ich getötet hatte. In ihrem Satz war ein Hauch Unsicherheit gewesen, ob es richtig war, was wir getan hatten. An die Möglichkeit eines moralischen Unrechts hatte ich bis dahin noch nicht einmal gedacht, weil wir doch nur den Willen des Patienten befolgt hatten. Jetzt war ich plötzlich unsicher, ob es nicht moralisch vielleicht auch dann hätte unverzeihbar sein können, wenn K. es so gewollt hätte. Selbst ob er es so gewollt hätte, war mir jetzt nicht mehr so klar. Bis heute nicht.

Ich beschloss, niemals mehr als Arzt zu töten, habe es nie wieder getan und habe mir das eine Mal nie verziehen.