„Sartre trotz allem“: Das Gedenkjahr in Frankreich beginnt mit Ausstellung und heutiger Sonderausgabe der „Libération“

Jean-Paul Sartre wurde vor hundert Jahren, am 25. Juni 1905 geboren, er starb vor 25 Jahren, am 15. April 1980. Grund genug für Frankreich, um mit einer Ausstellung, diversen Sendungen und gedruckten Sonderbeilagen ein ganzes Sartre-Jahr zu zelebrieren. Auf die aktuelle Frage zum hundertsten Geburtstag, was vom Beitrag dieses Philosphen und Schriftstellers geblieben ist, versucht heute die von Sartre mitbegründete Tageszeitung Libération mit einer 72-seitigen Sonderbeilage zu antworten. Am Mittwoch eröffnete eine Ausstellung (bis 25. August) in der Bibliothèque Nationale de France „François Mitterrand“, Quai François-Mauriac, 75013 Paris. Sie lässt mit einer Vielzahl von Bild- und Tondokumenten, Artikeln und Manuskripten die Sartre-Epoche aufleben. Weblink: www.bnf.fr

Sartre ist kein umgänglicher und kein unumstrittener Jubilar. Und wenn zum Beispiel Jean Daniel, der Doyen der französischen Medienszene, in seinem Nouvel Observateur als Titel seines Editorials „Sartre trotz allem“ wählt, ist der allgemeine Tonfall der Gedenkfeiern gegeben. Die Retrospektive wird zum kritischen Inventar, das in Sartres Werk und Wirken je nach (heutiger) Meinung die Spreu vom Weizen trennt. Wer wie Sartre Partei ergriff und dabei auch mehrfach politisch danebenlangte und dies später zum Teil auch selbstkritisch aufarbeitete, hätte sich selber über eine solche selektive Würdigung keineswegs gewundert. Die vergleichende Gegenüberstellung mit einem anderen, ebenfalls 1905 geborenen Zeitgenossen, Raymond Aron, erleichtert (oder simplifiziert?) die Bilanz. Die beiden hatten zusammen in der Pariser École Normale Supérieure, aus der die akademische Elite hervorgeht, die Schulbank gedrückt und nach dem Krieg das philosophisch-literarische Magazin Les Temps modernes gegründet. Ihr Streit über den Kommunismus entzweite sie, erst 1979 fanden sie sich Seite an Seite in einer Solidaritätsaktion für die Boatpeople aus Indochina. Sicher war der politisch von den Rechten beanspruchte Aron klarsichtiger als der linke Sartre, was den Nationalsozialismus, den Stalinismus und seine maoistische Variante sowie die revolutionäre Gewalt betraf. Im Namen der Freiheit und der Verachtung der Bourgeoisie aber beteuern in Frankreich auch heute noch viele, es sei „besser, sich mit Sartre zu täuschen, als mit Aron Recht zu haben“. Sartre war der Rekordmann im Lancieren von Petitionen, an der Seite seiner Gefährtin Simone de Beauvoir engagierte er sich für la cause du peuple (wie eine der von ihm gegründeten Zeitungen hieß) und gegen die salauds (die Bourgeois, die ihre niederträchtigen Absichten hinter ihrem guten Gewissen verbergen). Er schuf damit den Typus des kämpferischen Intellektuellen in Frankreich in Anlehnung an ein Vorbild aus der Zeit der Aufklärung. „Man sperrt einen Voltaire nicht ein“, protestierte darum General de Gaulle, als die Rechte im Mai 68 Sartre ins Gefängnis werfen wollte. Sartres Bedeutung als Schriftsteller ist unbestritten, seine Rolle als Wortführer einer existenzialistischen Philosophie der Freiheit dagegen ist eher etwas in den Hintergrund geraten. RUDOLF BALMER, PARIS