Europa bleibt ein Angriffsziel

Aufgerissene Waggons, Leichen auf den Gleisen, die Menschen in Panik – Madrid bietet am 11. März des vergangenen Jahres ein Bild des Grauens. Die Bomben explodieren innerhalb von 20 Minuten in vier verschiedenen Nahverkehrszügen. Die Sprengsätze sind in Rucksäcken versteckt. Die ersten detonieren um 7.35 Uhr, als der Zug gerade in den stark frequentierten Bahnhof Atocha im Zentrum der Stadt einfährt. 192 Menschen sterben, fast 2.000 werden verletzt. Der Terror militanter islamistischer Gruppen hat Europa erreicht.

Die spanische Fährte

Die Wurzeln des islamistischen Terrornetzes in Europa reichen weit über den Anschlag in Madrid zurück. So zog es schon den New Yorker Todesflieger Mohammed Atta und seine Kumpane im Juli 2001 nach Spanien, um letzte Vorbereitungen für die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 zu treffen. Der in Hamburg lebende Student traf sich an der Mittelmeerküste in der Nähe von Tarragona mit seinem WG-Genossen, dem Kopf der Operation, Ramsi Binalshibh. Atta kam aus Miami, Binalshibh reiste aus Deutschland an. Im Zielland Spanien verfügte das Netzwerk der Al-Qaida-Terroristen über eine breite Infrastruktur. Der gebürtige Jemenite Binalshibh, der später in Pakistan verhaftet wurde, reiste in Begleitung eines Mannes, den Zeugen später als Said Bahadschi identifizierten. Auch hier führt eine Spur nach Hamburg: Bahadschi lebte zeitweise in der Hamburger WG der Anschlagplaner um Atta. In Bahadschis Telefonbuch wurde auch die Nummer eines gewissen Eddin Barakat alias Abu Dahdah gefunden – Abu Dahdah gilt als führender Mann der al-Qaida in Spanien. Zwar sitzt er seit November 2001 in spanischer U-Haft, doch einer der Attentäter vom 11. März 2004, Dschamal Sugam, unterhielt Kontakte zu Abu Dahdah. Ein weiterer Knoten im weit gespannten Netzwerk islamistischer Extremisten in Europa und Nordafrika ist der Imam Mohammed Fizazi alias Abu Marlam. Er gilt als geistiges Oberhaupt der marokkanischen Salafisten, die mit den mörderischen Anschlägen von Casablanca im Mai 2003 – bei denen 45 Menschen starben – und den Madrider Anschlägen 2004 in Zusammenhang gebracht werden. Er predigte nicht nur im marokkanischen Tanger, wo ihn Dschamal Sugam kennen lernte. Er wirkte auch in Hamburg – Atta und seine Zelle hatten Kontakt mit ihm.

Schauplatz Deutschland

Die Spuren nach Deutschland – nicht nur die aus Spanien – haben bewirkt, dass Polizisten und Verfassungsschützer die Bundesrepublik nicht mehr wie früher nur als Rückzugs- und Planungsraum für terroristische Aktivitäten begreifen. Nicht auszuschließen sei, dass Deutschland auch Schauplatz von Anschlägen werde, heißt es schon Ende 2002 in einer Lageeinschätzung des Wiesbadener Bundeskriminalamtes. Bundesweit etwa 160 Ermittlungsverfahren im Bereich des militanten politischen Islam, 80 davon bei der Karlsruher Bundesanwaltschaft – das spricht für die BKA-Einschätzung. Fraglich bleibt, ob das Land für die drohende Gefahr gerüstet ist. „Polizei und Verfassungsschutz sind personell nicht in der Lage, bereits bekannte gewaltbereite Islamisten zu beobachten“, urteilt Konrad Freiberg, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, in der rund 180.000 Beamte organisiert sind. Um 300 so genannte „Gefährder“ zu überwachen, braucht es laut Freiberg 6.000 Polizeibeamte. Und die sind nicht in Sicht. Im Gegenteil: Allein in den letzten fünf Jahren seien rund 7.000 Polizeistellen gestrichen worden, beklagt Freiberg und fragt, „wer die Verantwortung tragen wird, wenn sich nach einem Anschlag herausstellen sollte, dass die Täter – wie in Madrid – bereits den Sicherheitsbehörden bekannt waren, der Anschlag aber trotzdem nicht verhindert wurde?“

Es fehlt nicht nur Personal, den Fahndern fehlt auch der Durchblick. Konkrete Aussagen über eine direkte Bedrohung Deutschlands durch islamistisch-terroristische Gruppierungen lassen sich kaum treffen, sagt ein zuständiger ranghoher Kriminalbeamter, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Die Informationsgewinnung im Bereich des gewaltbereiten Islamismus sei immer noch „außerordentlich schwierig“. Konkrete Hinweise auf die Ausspähung von Objekten oder Vorbereitungshandlungen für Anschläge habe man bislang „noch nicht mitbekommen“.

Grundsätzlich gelten alle ausländischen Einrichtungen wie Botschaften, Konsulate und Wirtschaftszentralen, und dabei vor allem die amerikanischen und die israelischen, als potenzielle Ziele. Deutsche Einrichtungen stufen die Sicherheitsbehörden als gefährdet ein, wenn sie einen hohe Symbolkraft besitzen, wie etwa der Berliner Reichstag, das Brandenburger Tor oder der Kölner Dom.

Unisono konstatieren die Sicherheitsbehörden eine latente Anschlagsgefahr. Und die steigt mit den außenpolitischen Aktivitäten der Bundesregierung. So musste beispielsweise aus polizeilicher Sicht angesichts der Kanzler-Reise vergangene Woche auf die arabische Halbinsel berücksichtigt werden, dass der angestrebte Ausbau wirtschaftlicher Beziehungen „einigen Leuten nicht gefällt“, wie sich ein BKA-Beamter ausdrückt.

Ein altes Problem aus Sicht der Sicherheitspolitiker ist die Aufsplitterung der deutschen Sicherheitsbehörden. Verfassungsschutz, BND, Zoll und Bundeskriminalamt kommen sich schon auf Bundesebene ständig ins Gehege. Völlig undurchschaubar wird die Sicherheitsarchitektur aber selbst für Experten, wenn die entsprechenden Landesbehörden hinzugezogen werden.

Bundesinnenminister Otto Schily hat als Konsequenz der Zersplitterung ein neues „Analysezentrum“ im Berliner Stadtteil Treptow errichten lassen, das die Vertreter der verschieden Behörden täglich zur Lagebesprechung an einen Tisch bringt. Doch die geistige Kleinstaaterei und die Eifersüchteleien der einzelnen Behörden konnte auch Schily nicht ganz abstellen. So müsse das Bundeskriminalamt die Landeskriminalämter „regelrecht überreden“, ihre Erkenntnisse weiterzugeben, berichtet einer, der die neuen Tischsitten kennt. Ebenso fehle ein sinnvoller Informationsaustausch mit den Geheimdiensten, da die Verfassungsschützer der Länder über die Weitergabe ihrer Erkenntnisse selbst entscheiden können.

Europas Versäumnis

Ist schon die Zusammenarbeit zwischen den deutschen Behörden beschwerlich, zwischen den Ländern der Europäischen Union ist sie noch problematischer. Die Innenminister der EU-Länder brachten als Folge der Anschläge vom 11. September und vom 11. März zwar einen europäischen Haftbefehl auf den Weg, der vor allem die Auslieferung Verdächtiger unter den EU-Staaten erleichtert. Auf viel mehr konnten sie sich aber nicht verständigen. Auf zwei eng beschriebenen Seiten listet der für Justiz und Inneres zuständige EU-Kommissar Frattini auf, was bisher geschah: „11. März 2004. Die Europäische Union reagiert auf der Stelle. Bereits am 25. und 26. März 2004 bekundet der Europäische Rat seine Solidarität mit dem spanischen Volk.“ Realsatire vom Feinsten. Was der Text dagegen verschweigt: Seit Juli 2004 ist der Chefposten des Europäischen Polizeiamts Europol unbesetzt, weil sich die großen Mitgliedsstaaten nicht einigen konnten, wer den prestigeträchtigen Job bekommen soll. Der allseits geschätzte deutsche Ermittler Jürgen Storbeck musste gehen, weil ein Franzose ihn beerben sollte. Der aber war nicht mehrheitsfähig, und so machte vergangene Woche ein Mitarbeiter des BKA das Rennen. Schon bald soll Max-Peter Ratzel, ein Spezialist für Organisierte Kriminalität, seine Arbeit aufnehmen. Die Posse zeigt, welche Lücke in der Union klafft zwischen der allseits erkannten Notwendigkeit, den Informationsaustausch zu verbessern, und den nationalen Eifersüchteleien der Dienste. Die europäische Antwort auf den 11. September und den 11. März ist ziemlich kleinlaut ausgefallen.

Ob Casablanca oder Madrid, die Anschläge tragen die gleiche Handschrift und hinter ihnen stecken die gleichen Drahtzieher, das nordafrikanische Netz von al-Qaida. Längst haben hier die marokkanischen Salafisten die Algerier abgelöst. Der harte Kern des militanten Islamismus in Nordafrika sind heute nicht mehr wie noch vor ein paar Jahren die algerischen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) oder die Salafistischen Gruppen für Predigt und Kampf (GPSC), sondern die Islamische Marokkanische Kampftruppe (GICM).

Diese Gruppe rekrutiert sich aus ehemaligen marokkanischen Afghanistankämpfern. Zuerst leisteten sie nur logistische Arbeit für andere Gruppen, wie die in Algerien. Im Mai 2003 schritten sie dann in Casablanca erstmals zur Tat. Bei Anschlägen auf westliche und jüdische Einrichtungen starben 45 Menschen. Sie wurden mit einfachen Sprengsätzen durch 14 Selbstmordattentäter verübt. In Madrid verfeinerten sie ihre Technik. Es brauchte keine Kamikaze mehr. Es reichten Handys als Zeitzünder.

Die Anschläge in Marokko und Spanien sind das Ergebnis einer Versammlung in Istanbul im Februar 2002. Damals einigten sich Mitglieder der GICM sowie algerische, tunesische und libysche Gesinnungsgenossen darauf, den heiligen Krieg in die Länder zu tragen, aus denen die Kämpfer stammen, statt nach Tschetschenien, Afghanistan oder sonst wo zu ziehen. Hinter dem Treffen, bei dem Marokko und Spanien ausdrücklich als Ziele von Anschlägen benannt wurden, soll nach Angaben westlicher Geheimdienste der Jordanier al-Sarkawi stecken, der mit seinen Kämpfern den von den US-Truppen besetzten Irak in Schrecken versetzt.

Wie andere Länder auch reagierte Italien mit Gesetzesänderungen auf den 11. September. So wurde die Straftat des internationalen Terrorismus neu eingeführt. Außerdem wurde das Abhören Terrorverdächtiger erleichtert. Nicht erst eingeführt werden musste dagegen die Möglichkeit, Ausländer auch beim Vorliegen bloßer Verdachtsmomente des Landes zu verweisen: Auch vor 2001 hatte der Innenminister diese Option. Seit November 2003 wurden ein Senegalese, sechs Marokkaner und vier Algerier ausgewiesen.

Italien blieb bisher von Terroranschlägen islamistischer Gruppen verschont. Das einzige bisher registrierte Selbstmordattentat im März 2004 war offenbar das Werk eines isolierten Einzelgängers: Der Marokkaner Mostafa Chaouki sprengte sich in seinem Auto vor einem McDonald’s im norditalienischen Brescia in die Luft; in einem Brief hatte er den Anschlag mit dem Krieg im Irak begründet, zugleich aber mitgeteilt, er gehöre weder zu al-Qaida noch zu anderen Gruppierungen. Dennoch gab es nach dem 11. September 2001 immer wieder spektakuläre Ermittlungsaktionen. So wurden in Neapel 28 Pakistani inhaftiert, die angeblich Attentate geplant hatten; triumphierend teilten die Fahnder mit, sie hätten größere Sprengstoffvorräte gefunden. In Rom gingen 11 Marokkaner der Polizei ins Netz; sie waren beschuldigt, einen Anschlag unter Verwendung von Eisenzyanid vorbereitet zu haben. In Bologna kamen fünf Marokkaner in Haft: Ihnen wurde vorgeworfen, sie hätten einen Anschlag auf die dortige Sankt-Petronius-Kathedrale geplant, weil in der Kirche ein Fresko zu sehen ist, das den Propheten Mohammed in der Hölle schmorend zeigt.

Alle diese Verfahren endeten allerdings im Nichts: Wenn überhaupt, so wurden die vermeintlichen Terroristen wegen ganz anderer Vergehen verurteilt. Der bei den Pakistani in Neapel gefundene Sprengstoff gehörte der Camorra, der lokalen Mafia. Das Eisenzyanid in Rom: Es diente zur Entwicklung von Fotos, die dann in gefälschte Pässe kamen. Die Marokkaner in Bologna hatten sich – offenbar von der Polizei abgehört – über das Fresko ereifert, mehr aber auch nicht. Auch die Tatsache, dass – bei 180 Festnahmen von 2001 bis heute – erst eine einzige Person wegen der Straftat „internationaler Terrorismus“ verurteilt worden ist, legt den Eindruck nahe, dass die islamistische Bedrohung in Italien gering ist.

Drehkreuz Italien

Dieser Eindruck täuscht jedoch. Seit 2001 rückten in zahlreichen Städten vor allem Norditaliens, aber auch in Rom oder Neapel immer wieder Gruppierungen vor allem von Maghrebinern, aber auch von Ägyptern oder Somalis ins Fadenkreuz der Fahnder; den Verhafteten wird fast immer die logistische Unterstützung islamistischer Gruppen im Ausland vorgeworfen.

So nahm die Polizei im Oktober 2003 drei Marokkaner fest, unter ihnen den Imam von Florenz, Mohammed Rafik. Die drei sind immer noch inhaftiert. Rafik wird vorgeworfen, er sei einer der Finanziers der Anschläge in Casablanca gewesen; seine Gruppe soll die marokkanische Terrororganisation Salafiya Jihadiya unterstützt haben.

In einem Ermittlungsverfahren stießen die Fahnder auf Querverbindungen zur Hamburger Islamistenszene. Im März 2003 wurde in Mailand und Parma eine Gruppe ausgehoben, zu der auch der algerische „Scheich“ Abderrazak gehörte; Abderrazak wurde im November 2003 von Deutschland an Italien ausgeliefert, und im Februar 2005 wurde gegen ihn und fünf Mitangeklagte der Prozess in Mailand eröffnet. Die Gruppe ist beschuldigt, die irakische Gruppe Ansar al-Islam im Irak mit Rekruten, Geld und falschen Pässen unterstützt zu haben. Und nicht nur Abderrazaks Spuren weisen nach Hamburg: Der verhaftete Marokkaner Mohammed Daki hatte vor seiner Rückkehr nach Italien an der Hamburger Fachhochschule studiert, die auch Mohammed Atta besuchte – und Daki betete ebenfalls in der Hamburger al-Kuds-Moschee. Sicher ist, dass er Ramsi Binalshibh, den Planer der Attentate vom 11. 9., gut kannte. Binalshibh ließ sich ein Jahr lang die Post an Dakis Adresse schicken. Dennoch wurde Daki im Januar 2005 vom Vorwurf des internationalen Terrorismus freigesprochen: die Richterin mochte Ansar al-Islam nicht als terroristische Vereinigung, sondern bloß als Guerilla-Formation einstufen.

Heimischer Nachwuchs

Seit dem 11. September sind weltweit Ursachenforschung und Risikoabwägungen angesagt – mit bisher eher mageren Ergebnissen. Mit den Anschlägen von Madrid im vorigen Jahr hat sich der Fokus der Terrorfahnder aber deutlich verändert: Der Feind steht nunmehr im Land. So glaubt etwa die britische Staatssekretärin im Innenministerium, Hazel Blears, dass Großbritannien mehr durch die eigene Bevölkerung gefährdet ist als durch ausländische Terroristen. Ihre Einschätzung beruht auf Berichten der Polizei und des Geheimdienstes MI-5. Demnach haben die Sicherheitskräfte bereits 2002 ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf britische Muslime gelenkt. Im vorigen Jahr wurden zahlreiche Briten pakistanischer Herkunft festgenommen. Die Polizei ist davon überzeugt, dass sie seit den Anschlägen vom 11. September mindestens fünf groß angelegte Terrorangriffe in Großbritannien verhindert habe. Rund 200 Al-Qaida-Terroristen sollen sich in Großbritannien befinden.

Gerne wird im Zusammenhang mit der Furcht vor Anschlägen auf den Fall von Saajid Badat, einem britischen Muslim aus der Mittelschicht, verweisen. Der hatte am Morgen der Unterhaus-Debatte um die Verschärfung der Sicherheitsgesetze vor Gericht seinen Plan eingestanden, ein Passagierflugzeug auf dem Weg in die USA in die Luft zu sprengen. Der 25-Jährige führte den Plan nicht aus, behielt die Bombe jedoch. Fast zwei Jahre später, im November 2003, wurde sie bei einer Hausdurchsuchung gefunden.

Während andere Länder politische Gewalt vor allem als Sicherheitsproblem begreifen, erleben sie die Niederländer vorrangig als Angriff auf die eigene Identität. So wirken noch heute die Bilder aus dem Städtchen Ede nach: Marokkanischstämmige Jugendliche tanzten am 11. September ausgelassen auf der Straße, um den „Sieg“ von al-Qaida zu feiern. Umgekehrt gab es mehrere Versuche, Moscheen und muslimische Einrichtungen anzuzünden.

Rechtsruck und Pädagogik

Der populistische politische Quereinsteiger Pim Fortuyn dekretierte damals, dass „ein kalter Krieg mit dem Islam unvermeidlich“ sei, denn „Ali Baba droht bei uns die Macht zu übernehmen“. Fortuyn hatte enormen Zulauf. Kurz vor dem Wahltermin im Mai 2002 wurde er von einem radikalen Tierschutzaktivisten ermordet. „Die Kugel kam von links“ – dieses Schlagwort diskreditierte fortan Grüne und Sozialdemokraten, die sich für eine liberale Integrationspolitik eingesetzt hatten. Fortuyns LPF gewann 17 Prozent der Stimmen. Seither ist in den Niederlanden ein allgemeiner Rechtsruck zu beobachten.

Ein erneuter Schock war der Mord an Theo van Gogh, der vom 26-jährigen Mohammed B. erschossen und erstochen wurde. Der Niederländer marokkanischer Abstammung soll Kontakte zu spanischen militanten Islamisten unterhalten haben. Dennoch scheint der Mord an dem Filmemacher eine Einzeltat gewesen zu sein: Van Gogh musste für seinen neuesten Streifen „Submission“ sterben, in dem Koranverse auf die nackte Haut einer Frau gemalt wurden.

Der niederländische Geheimdienst AIVD schätzt die Zahl der Islamisten im Land auf 50.000, davon seien 150 gewaltbereit und würden regelmäßig observiert. Allerdings ist das Vertrauen in den AIVD gering. So hatte man dort auch Mohammed B. monatelang beobachtet – um ihn kurz vor der Tat im Oktober als ungefährlich einzustufen und nicht länger zu verfolgen.

„Keine konkrete Gefahr“ – so hieß es nicht nur in den Niederlanden, sondern auch bei den meisten Sicherheitsbehörden Skandinaviens nach den Anschlägen von Madrid. Warum sollte zum Beispiel Schweden mit seiner verhältnismäßig wenig aggressiven und zurückhaltenden Politik ein strategisches Ziel von Terroristen sein?

Eine solche Fragestellung sei gar kein schlechter Ansatz, meint der schwedische Terrorexperte Magnus Ranstorp, Professor an der schottischen Universität St. Andrews. Einen Rundumschlag mit einer umfassenden Einschränkung bürgerlicher Rechte und immer lückenlosere Überwachungsmaßnahmen als Antwort auf terroristische Bedrohung hält er jedenfalls für falsch. Den Kampf gegen den Terrorismus müsse man in den „Herzen und Köpfen der Menschen“ führen. Erfolge in der Terrorismusbekämpfung schaffe man gerade durch vertrauensvolle Zusammenarbeit mit muslimischen Gruppen.

Konkret lässt sich diese Haltung im Umgang mit der fundamentalistischen Organisation Hizb ut-Tahrir studieren. In Deutschland und Großbritannien als Terrororganisation verboten, kann Hizb ut-Tahrir in Dänemark unbehindert arbeiten. Dabei ist man sich einig, dass die Organisation undemokratisch und militant ist und ein teilweise verabscheuungswürdiges Menschenbild verbreitet. Doch hat man bislang keine schlechten Erfahrungen damit gemacht, undemokratische Organisationen gerade nicht zu verbieten. Auch nicht neonazistische Bewegungen. Ein Verbot würde nur das Selbstbild als Opfer stärken, es würde die Truppe nur weiter radikalisieren und erst richtig gefährlich machen.

Am Bosporus, der Schnittstelle zwischen Europa und Asien, ist eine solche Vorgehensweise unvorstellbar. Die türkische Republik kämpft seit ihrer Gründung 1924 für westliche Aufklärung und gegen islamische Reaktion. Dies war geradezu das Staatsziel des „Vaters“ der modernen Türkei, Kemal Atatürk.

Islamischer Terror im aktuellen Sinn spielte in den Achtziger- und Neunzigerjahren eine Rolle. Führende laizistische Intellektuelle wie der Journalist Ugur Mumcu und der Jurist Kislali wurden auf offener Straße ermordet, andere prominente Kemalisten bedroht.

Die bekannteste islamistische Terrorgruppe der 90er-Jahre war die Hisbollah (die Organisation hat nichts mit der gleichnamigen Truppe im Libanon zu tun). Hisbollah war zunächst hauptsächlich in den kurdischen Gebieten der Türkei verbreitet und strebte einen unabhängigen kurdischen Gottesstaat an. Da sie damit mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK kollidierte, gab es immer wieder Gerüchte, Hisbollah sei vom Geheimdienst unterwandert und würde zielgerichtet gegen die PKK eingesetzt. Wenn es anfangs so gewesen sein sollte, dann lief die Organisation ihren Einflüsterern später aber aus dem Ruder und verübte zahlreiche Morde – hauptsächlich an Geschäftsleuten aus dem islamischen Umfeld. Dabei ging es um Geld und um Machtkämpfe innerhalb der islamischen Bewegung.

Al-Qaida bleibt aktiv

Vor dem Hintergrund einer Regierung mit islamischen Wurzeln wurden dann im November 2003 im Abstand von einer Woche zwei zeitgleiche Anschlägen auf zwei Synagogen und ein Doppelanschlag auf das englische Konsulat und die Zentrale der HSCB Bank in Istanbul mit insgesamt 62 Toten verübt. Der Geheimdienst konnte die Attentate nicht verhindern, obwohl er die Spuren zu den Attentätern längst aufgenommen hatte. Diese stammten aus einer kurdischen Kleinstadt, aus dem Dunstkreis der Hisbollah, die Ende der 90er-Jahre zerschlagen worden war. Ein Teil der Täter waren so genannte „Afghanen“, also türkische Islamisten, die nach Afghanistan gegangen und dort militärisch ausgebildet worden waren.

Türkische Geheimdienstler gehen von ungefähr tausend Landsleuten aus, die sich entweder in Afghanistan, Pakistan, Bosnien oder Tschetschenien aufgehalten haben und dort in der einen oder anderen Weise in Kämpfe involviert waren. Anders als in den meisten europäischen Ländern hat es beim EU-Kandidaten Türkei keine gesetzliche Verschärfungen als Konsequenz der Attentate gegeben. Im Gegenteil, die Türkei ist dabei, ihre restriktive Anti-Terror-Gesetzgebung im Rahmen der Annäherung an die EU zu liberalisieren.

Die Anschläge in Istanbul und Madrid zeigen, dass islamistische, vom Geist des Terrornetzwerks al-Qaida inspirierte Gruppen auch nach dem 11. 9. noch ungebrochen handlungsfähig waren – allen Fahndungserfolgen in Europa zum Trotz.

Bis zum 11. März des vergangenen Jahres, urteilt der renommierte Terrorismusforscher Rohan Gunaranta vom Institut für Strategische Studien in Singapur, hätten vor allem drei Faktoren den Westen vor Anschlägen bewahrt:

– die erhöhte Wachsamkeit nach den Anschlägen vom 11. September in den USA,

– eine unkomplizierte Kooperation der Sicherheits- und Geheimdienste

– sowie die Bereitschaft von Regierungen, präventive Maßnahmen gegen erkannte Terrorzellen durchzuführen.

„Als Europa jedoch gut zweieinhalb Jahre nach dem 11. September keine Angriffe al-Qaidas oder anderer islamistischer Gruppen erlebte“, so Gunaranta, „wurden manche Länder, ihre Führer und Offizielle, an der Terrorfront nachlässig.“ Die Europäer, sagt der anerkannte Terrorismusforscher, müssen sich darüber klar werden, dass sie nach wie vor ein primäres Ziel al-Qaidas und der mit ihr verbündeten Gruppen sind.