„Die Mädchen setzen sich durch“

Die Filmemacherin Aysun Bademsoy betritt die Konfliktzonen der Integration. So traf sie auch auf Hatun Sürücü, die kürzlich der „Familienehre“ wegen ermordet wurde. Ein Gespräch über die Gründe der Ghettobildung und die Lehren aus dem Mord

INTERVIEW HARALD FRICKE
UND DANIEL BAX

taz: Frau Bademsoy, Sie haben an einem Dokumentarfilm gearbeitet, in dem auch Hatun Sürücü vorkommen sollte – jenes Mädchen, das vor einem Monat vermutlich von ihren Brüdern ermordet wurde. Wie kam es zu dem Film?

Aysun Bademsoy: In meinen Filmen suche ich nach den Schnittstellen, an denen sich Menschen zwischen der deutschen Gesellschaft und ihrer türkischen Herkunft bewegen. Für diesen Film, in dem es um Jugendliche im Bezirk Kreuzberg gehen sollte, habe ich mit der Berliner Künstlerin Ursula Döbereiner zusammen gearbeitet. Anhand von Porträts und Interviews wollten wir den Weg dieser Jugendlichen „von der Straße ins Jugendzimmer“ verfolgen, so der Titel.

Wie haben Sie Ihre Protagonisten getroffen?

Wir sind in Jugendheime gegangen und haben uns an soziale Projekte gewandt. Hatun war eines der Mädchen, die ich so kennen gelernt und ein Jahr lang immer wieder getroffen habe. Wir mochten uns ziemlich gerne.

Wie haben Sie von dem Mord erfahren?

Als ich morgens im Radio gehört habe, eine junge Türkin sei – mit einem Foto ihres kleinen Sohnes in der Brieftasche – ermordet an einer Bushaltestelle aufgefunden worden, da war mein erster Gedanke: Hoffentlich war es nicht Hatun! Später hat mich eine Erzieherin angerufen und meine Ahnung bestätigt. Ich war total schockiert. Ich wusste, dass es da einen Konflikt mit der Familie gab. Aber Hatun wollte nie viel darüber reden: Sie war auch viel zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, und ihr Sohn war ihr wahnsinnig wichtig.

Der Fall Hatun Sürücü wird von vielen als exemplarisch gesehen: Er scheint zu zeigen, wie sich die türkischen Mädchen emanzipieren, während die Männer zurück in traditionelle Rollenbilder fallen. Tut sich da eine Schere auf?

Es gibt auch Jungs, die sich davon entfernen. Aber bei denen fällt das weniger auf. Wenn eine Frau das macht, dann wird das als Affront empfunden, weil sie die Ehre der Familie durch ihre Jungfräulichkeit bewahrt oder zerstört. Deswegen ist das eine andere Art der Befreiung, die da stattfindet. Aber wenn man in die türkischen Diskotheken und In-Cafés geht: Die sind voll von jungen Mädchen und Jungs, die ihren Spaß haben. Die leben auch anders als ihre Eltern.

In ihrem Film „Mädchen am Ball“ haben Sie junge deutschtürkische Fußballerinnen nach Ihren Lebensentwürfen gefragt. Da war auffällig, wie schwer es den meisten fiel, die zu benennen.

Es ist ja auch schwer, zwischen dem Moralkodex, mit dem man aufgewachsen ist, und den eigenen Bedürfnissen einen Weg zu finden. Die meisten haben sich tatsächlich ziemlich stark den Wünschen der Eltern untergeordnet. Sie haben sich zwar ihre kleinen Freiheiten gesucht, aber der Wunsch der meisten war doch, wie eine sagte: „Kinder kriegen, heiraten, glücklich sein“. Diese Mädchen bleiben auch sehr stark unter sich. Das ist etwas, was mich auch ein bisschen schockiert hat.

Woher rührt dieses Bedürfnis nach Abgrenzung?

Weil es den Kindern so beigebracht wird. In vielen Familien gibt es diese Haltung: Wir sind hier am Anfang nicht akzeptiert worden, darum grenzen wir uns ab. Und in solchen Bezirken wie Kreuzberg übt die türkische Community einen starken sozialen Druck aus, auch auf die Kinder. Denen wird immer gesagt: Jeder weiß, was du machst, alle Leute beobachten dich. Ich bin ja mit den Mädchen aus dem Fußballverein durch die Straßen gelaufen. Bevor wir zu Hause waren, wussten die Eltern oft schon, wo wir gewesen waren.

Viele türkische Familien scheinen nicht umgehen zu können mit der Individualisierung, die mit der Migration einher geht. Woher kommt diese Angst?

Das liegt an der türkischen Erziehung. Ich selbst bin nicht als unterdrückte Türkin aufgewachsen. Trotzdem mussten auch meine Eltern ganz schön umdenken, als ich mit 16 gegen vieles rebelliert habe, das für meine Eltern selbstverständlich war. Meine Brüder haben mich zum Glück dabei unterstützt. Wenn die Eltern aber nicht dazu bereit sind, dann kommt es zum ganz harten Bruch.

Dann bleibt nur Weglaufen?

Ich glaube schon. Ich habe eine Zeit lang unter verschleierten Mädchen recherchiert, von denen einige mit unglaublichem Druck unter das Kopftuch gezwungen wurden. Ein paar dieser Mädchen haben mich gefragt: Würdest du uns denn raten, wir sollten abhauen? Ich konnte das nicht bejahen. Ich hatte ja damals ein deutsches Umfeld und einen Freundeskreis, der mir Rückhalt gab.

Diese Mädchen haben kein Umfeld, dass ihnen einen Ersatz für den Verlust ihrer Familie bietet. So eine Entscheidung ist für viele Mädchen, aber auch Jungs unglaublich schwierig. Wenn sie in der deutschen Gesellschaft keinen Platz finden, welche Alternative haben sie dann?

Ja, welche?

Natürlich macht es einen Unterschied, ob man von der Familie finanziell abhängig ist oder nicht. Um sich ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen, muss man einen Job finden und sich eine eigene Wohnung leisten können. Die Familienstrukturen in Kreuzberg fangen ja auch die wirtschaftliche Misere auf. Aber Kreuzberg und Neukölln sind auch Stadtteile, die in den letzten zehn Jahre sich selbst überlassen worden sind. Viele türkische Familien schicken ihre Kinder ja auch nicht mehr auf eine Schule dort, weil sie wollen, dass sie noch eine berufliche Chance haben.

Was müsste geschehen?

Man sollte die Kinder so früh wie möglich in die Kindergärten holen und sicherstellen, dass dort und in den Schulen gutes Deutsch gesprochen wird. Wenn die Kinder die Sprache nicht zu Hause lernen, dann müssen sie es eben draußen lernen. Die Jobs, für die einst türkische Arbeiter geholt wurden, die gibt es nicht mehr. Die Qualifizierung spielt daher eine immer größere Rolle.

Die schlechten Leistungen türkischer Schüler werden oft auf die Bildungsfeindlichkeit ihrer Eltern zurückgeführt: Die wollten ohnehin bloß, dass ihre Töchter schnell heiraten. Sehen Sie das auch so?

Was heißt denn Bildungsfeindlichkeit? Das hat oft eher Unvermögen zu tun. Es gibt so viele Familien, wo die Mütter nicht einmal lesen und schreiben konnten und die Kinder mit den Eltern zum Arzt gehen. Wenn dann die Kinder zur Schule gehen, hegt man große Erwartungen: Mein Kind soll Arzt werden. Und wenn man merkt, die schaffen das nicht, dann überspielt man die Enttäuschung, in dem man sich sagt: Na ja, die heiraten ja sowieso bald oder die Jungs finden einen Job beim Onkel.

Diese Tendenz befördert allerdings die Ghettobildung.

Ja. Natürlich mischen sich in anderen Bezirken die Welten viel mehr. Aber ich glaube schon, dass unter einem Teil der Migranten etwa seit zehn Jahren eine Rückentwicklung stattfindet, die sich verfestigt. Man hat den Eindruck, dass die Schere zwischen denen, die noch irgendwie an dieser Gesellschaft teilnehmen, und denen, die sich in eine komische, selbst gebastelte Identität flüchten, immer weiter auseinander klafft.

Was halten Sie von der gegenwärtigen Diskussion um Zwangsehen?

Man sollte die Emotionalisierung etwas herunterschrauben. Man muss sich doch nur mal in den Rechtsanwaltsbüros umschauen: Die sind voll mit zwangsverheirateten Frauen, die alle dabei sind, sich scheiden zu lassen. Die sind offenbar nicht alle blöd und suchen sich Wege, um sich zu befreien.

Was machen Sie nun mit dem Film, in dem Hatun vorkommen sollte?

Ich möchte die Arbeit fortsetzen. Gleichzeitig möchte ich gern einen Beitrag zu ihrem Andenken leisten. Ich würde gern der Frage nachgehen: Wie diskutieren die Türken das Thema? Gibt es da eine Auseinandersetzung?

Diskutieren die Türken das Thema anders, als es in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert wird?

Die Deutschen debattieren natürlich über die Versäumnisse bei der Integration. In türkischen Kreisen setzt man sich eher mit der eigenen Kultur auseinander. Aber man betrachtet den Fall auch unter individuelleren, religiösen und familiären Aspekten.

In der türkischen Community sind ja auch alle entsetzt, das ist der Konsens. Ob im türkischen Friseurladen oder im Café: Man redet darüber. Und viele sagen, die Täter müssten viel härter bestraft werden.

Ist der Fall exemplarisch?

Man muss den Fall ganz genau betrachten, gerade die Brüder. Was ist mit diesen drei Jungs passiert? Was hat sie motiviert, diese kriminelle Energie aufzubringen und auch noch zu glauben, im Recht zu sein?

Hatun hatte noch einen Bruder, der in Köln Jura studiert.

Ja, das war der Einzige, zu dem sie noch Kontakt pflegte. Ich habe ein Mädchen getroffen, das mit dem jüngsten Bruder in die Schule gegangen ist. Die konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass der geschossen haben soll, dafür sei er viel zu sensibel gewesen. Sie denkt, dass er sich dem familiären Druck gefügt haben muss.

Welche Lehren sollten aus dem Mord gezogen werden?

Ich denke, dass die Hürriyet oder die türkischen Elternverbände reagieren müssen. Und auch in dem Moscheen muss darüber geredet werden. Man muss das erzwingen: Man sollte Mahnwachen organisieren vor Moscheen, die als besonders konservativ bekannt ist, oder Kreuzberg mit Plakaten zupflastern, auf denen auf Türkisch steht: „Warum musste Hatun Sürücü sterben?“

In der deutschen Öffentlichkeit werden derzeit alle möglichen Forderungen erhoben …

Alle Jungs ins Gefängnis? Oder zur Zwangsarbeit nach Brandenburg? (lacht) Ich würde mir wünschen, dass man diese Diskussion kontinuierlich führt: Nicht nur über die Frage, wie begegnet man Zwangsehen? Sondern auch fordert, dass viel mehr Institutionen da sein müssen, die diesen Mädchen eine Alternative bieten. Dass man den Boden bereitet, damit diese Mädchen nicht gezwungen sind, in ihre Familien zurückzugehen. Und ich würde mir wünschen, dass sich auch die deutsche Gesellschaft ändert: Sie müsste endlich verinnerlichen, dass die Migranten ein Teil dieser Gesellschaft ist.

Was wird am Ende überwiegen: Der Eigensinn und das Emanzipationsbedürfnis der Mädchen oder der Unterdrückungsreflex der Männer?

Die Mädchen werden sich durchsetzen. Ich habe den Eindruck, dass die oft viel stärker sind, als das den Eindruck macht. Das gilt auch für die Kopftuchfraktion: Was ich da an Mädchen kennen gelernt habe, da war ich echt baff. Die Reibung innerhalb der Familien findet längst statt.