Tief in der Mitte

Görlitz muss Kulturhauptstadt Europas werden: Denn in dem tief greifenden Strukturwandel der deutsch-polnischen Grenzregion scheint die Zukunft auf

Denk ich an Sachsen in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht. So denken viele und sehen NPD, Kameradschaften, Billigpolen. Und nun plötzlich: Kultur. Hauptstadt. Europa. Eine Ungeheuerlichkeit? Ach Quatsch! Dringend notwendiger Perspektivwechsel. Allein dafür gebührt Görlitz Dank.

Görlitz, die Perle der Oberlausitz, die vielleicht schönste Stadt Deutschlands, ein Museum der Renaissance, Grenzstadt zu Polen, aber auch Abwanderung Ost, ehedem Waggonbauerstadt, heute industrielle Folgelandschaft. Der Zuschreibungen sind viele, mit unserem herkömmlichen Verständnis von Kultur haben sie wenig zu tun, erst recht nicht mit einer Kulturhauptstadt wie Genua oder Graz. Doch wer in Görlitz am Ufer der Neiße steht, weiß: Hier entsteht etwas Neues, und das hat viel mit Europa zu tun. Görlitz und Zgorzelec, das sind zwei Zwillingsstädte im deutsch-polnischen Zwischenland, in denen stellvertretend für viele Grenzregionen zwischen „altem“ und „neuem“ Europa die Zukunft ausgehandelt wird: das Zusammenschrauben zweier Städte, die einst eine waren, später geteilt wurden, neue Bewohner bekamen, sich voneinander abwandten und nun auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind.

Ist das schon Kultur? Oder soll man noch, als hätte es dieses Beweises bedurft, auf das Görlitzer Theater verweisen, auf das Schlesische Museum, in dem Kulturstaatsministerin Christina Weiss begriffen hat, warum es keines Zentrums gegen Vertreibungen bedarf, auf die Tuchmacherhäuser am Untermarkt, über den einst eine der wichtigsten Handelsrouten des Mittelalters führte? Nein, mit seiner Schönheit hat Görlitz wenig zu gewinnen, die Massenflucht seit der Wende hat es gezeigt. Das Pfund, mit dem Görlitz und Zgorzelec wuchern können, ist ihre Vorläufigkeit, ihr Umbruch, ihr Potenzial.

Apropos Europa. Wer in der schlesischen Oberlausitz nicht nur Nazis sieht, entdeckt vielleicht die Griechen. Die haben sich in den Sechzigerjahren nicht auf der deutschen, sondern der polnischen Seite niedergelassen und Zgorzelec solch exotische Kulturgüter wie Gyros, Retsina und Opium gebracht, da aß man in Görlitz noch Soljanka. Wenn das kein Argument ist für Multikulti-Europa. UWE RADA