Diskutieren als Dekoration

Man kann über alles reden, entschieden wird ohnehin woanders: Am vergangenen Mittwoch diskutierten Intellektuelle in der Berliner Staatsbibliothek über die Flick-Ausstellung und die abenteuerliche Maschine Gedenkkultur. Scham, so war man sich am Ende einig, sei der Glutkern der ganzen Debatte

VON JAN-HENDRIK WULF

Zumindest im Vorfeld der zweiten Podiumsdiskussion zur umstrittenen Berliner Flick-Collection deutete sich am Donnerstag eine Kontroverse an. Schon im Foyer der Berliner Staatsbibliothek kursierte ein Flugblatt, dessen anonyme Verfasser die im Hamburger Bahnhof gezeigte Sammlung als Symptom einer Normalisierungsstrategie der Berliner Republik geißelten. Die Großzügigkeit, mit der die Staatlichen Museen zu Berlin die Kritik an Flick für sich vereinnahmten, sei eine perfide Form moralischer Selbstimmunisierung: „Ergebnis ist eine Erinnerung ohne soziale und politische Folgen, eine entleerte, durchgestrichene Geste.“

Nicht zum offiziellen Programm des Abends unter dem Motto „Blinde oder weiße Flecken“ gehörten offenbar auch die beiden jungen Frauen, die vor das noch leere Podium traten. Sie wünschten im Duett, „dass sich alle kritischen Stimmen auf der Veranstaltung wohl fühlen, denn reden können wir über alles“. Ein junger Mann verteilte auf dem Podium Replikate von Dürer, die Betenden Hände und einen Hasen, und stellte noch zwei Töpfe mit gelben Primeln dazu. Im Weiteren blieben die Protestierer allerdings unsichtbar. Doch dass die im Flugblatt prophezeite Kollaboration von Kunst und Kritik tatsächlich in der Absicht der Veranstalter gelegen haben könnte, erfuhr man aus der Begrüßungsansprache von Peter-Klaus Schuster, dem Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin. „Niemand geht ahnungslos in diese Ausstellung“, hoffte Schuster und erntete Gelächter, als er die Flick-Debatte auch als Verdienst seiner Institution bezeichnete.

Für die außerplanmäßigen Kunstbeigaben interessierte sich unter den sechs Podiumsteilnehmern allein der Zeit-Feuilletonchef Jens Jessen: „Haben Sie schon gesehen? Wir sind Teil einer Installation geworden.“ Eine Deutung lieferte er gleich mit: „Wir sitzen hier nur zur Dekoration für einen Vorgang, der anderenorts beschlossen wurde.“ Folgenlose Debatten, wie eben diese um Flick, gehörten zu den beliebtesten Lebenslügen der deutschen Gedächtniskultur: „Jemand, der sich gar nicht beteiligt, sagt, wo es lang geht.“ Im Falle von Flick der Bundeskanzler.

Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung stimmte zu: „Die Sammlung war schon beschlossene Sache, ehe ein Diskurs eröffnet wurde.“ Ohne ein Dokumentationszentrum zur NS-Zwangsarbeit, die Nachzahlung in den Entschädigungsfonds und Aufklärung der Familiengeschichte hätte man Flicks Vorhaben ablehnen müssen: „Berlin ist eine leichtfertige Stadt, dass sie sich auf diese Ausstellung eingelassen hat.“ Der Potsdamer Historiker Julius H. Schoeps sah den Kunstmäzen dagegen nur zum Sündenbock gestempelt: Flick sei eine „Metapher für das Problem einer nicht verarbeiteten Vergangenheit. Mich verwundert, dass hier etwas auf eine Person fokussiert wird.“ Lieber solle man grundsätzlich über die deutsche Gedächtniskultur reden.

Gerade das sei anhand von Flick exemplarisch möglich, widersprach die Holocaust-Forscherin Deborah Lipstadt aus Atlanta. Sie befürchte, dass hier der vielleicht unbewusste Versuch unternommen werde, mit dem Namen Flick eine Wohlfühlstimmung zu erzeugen. „Mein Widerstand gegen die Ausstellung richtet sich nicht gegen die Kunst, sondern gegen die Reinwaschung dieses Namens“, beschrieb sie ihre Bedenken. „Ich wünschte, Flick säße heute hier. Dann würde ich ihm sagen: Schämen Sie sich nicht für das, was Ihre Familie angerichtet hat?“

Zwar schränkte Lipstadt noch ein, ihr gehe es nicht pauschal um alle nach dem Holocaust Geborenen, sondern um einen schamlosen Erben wie Flick, doch mit ihrem emphatischen Einwurf änderte sich die Stimmung auf dem Podium abrupt.

Ein rationales Verantwortungsgefühl reiche nicht aus, um mit der Erinnerung fertig zu werden, fand der Vorsitzende der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“, Hans Otto Bräutigam: „Sie braucht ein emotionales Element. Trauer und Scham sind Teil der Erinnerungskultur. Wir müssen uns berühren lassen.“ Und für Schoeps sind die Vergangenheitsdebatten Zeichen dafür, „dass etwas tief im Unterbewussten quält“.

Nun wollte auch Jessen nicht länger zurückstehen: „Es geht um die Scham, den Glutkern dieser Debatten.“ Doch er wollte auch provozieren: „Ich glaube, dass auch der Flick-Enkel Scham verspürt. Er will der dunklen Familiengeschichte eine hellere hinzufügen.“ Der Grund für die private unerlöste Innerlichkeit scheint mit dem Unbehagen an der öffentlichen Gedenkkultur zusammenzuhängen. Jessen nannte sie eine „abenteuerliche Maschine“, in der der böse Geist von Verdacht und Selbstverdacht stecke, „das Gift der Insinuation“: „Dieses Gift ist Zeichen der fortdauernden Beunruhigung, die von den NS-Verbrechen ausgeht. Wir werden damit leben müssen.“