Haut scannen

Potenzgerangel, Identitätskrisen und offene Formen: Mit „Brüderliebe“ kommt zum ersten Mal ein Spielfilm des französischen Regisseurs Gaël Morel in die deutschen Kinos

Nach dem Tod der Mutter droht das Familiengefüge auseinander zu brechen: Der verwitwete Vater stellt seinen drei halbwüchsigen Söhnen fast täglich die Machtfrage, vermag aber zu ihrer Orientierungssuche nichts Sinnvolles beizusteuern. Marc, Christophe und Olivier könnten charakterlich kaum unterschiedlicher ausfallen, einig sind sie sich in ihrem Hass auf die Autoritätsausbrüche ihres Vaters und im selbstzerstörerischen Trend ihrer Identitätskrisen. Wie andere arbeitslose Jungmänner auch widmen sie sich in ihrer Freizeit der Aufzucht von Kampfhunden, dem Besuch von Fitnesscentern, dem Herumlungern vor Wohnburgen sowie kleinen Dealereien. Das Ganze spielt diesmal aber nicht in den Banlieus von Paris, Lyon oder Marseille, sondern in einem Provinzflecken, in Annecy. Dynamik kommt in das Geschehen, als sich Marc in einen Revierkampf mit anderen Dealern verwickelt sieht. Christophe wird aus dem Gefängnis entlassen, er will fortan eine bürgerliche Existenz führen und heuert in einem Schlachthof an. Olivier schließlich, der jüngste Bruder, macht in sich die Neigung zum gleichen Geschlecht aus und bekennt sich allmählich dazu.

Gaël Morel, der Regisseur von „Brüderliebe“, verweist in einem Interview auf seine Wahlverwandtschaft zu Larry Clark. Spielen dessen Filme ausschließlich in einem Teenager-Kosmos, in dem die Älteren nur hilflose Statisten sind, verengt sich bei Morel die Perspektive auf junge Männer. Frauen gibt es hier gar keine mehr. Das ist für einen französischen Film durchaus ungewöhnlich. Die Jungmänner werden zwar nicht alle als schwul eingeführt, aber der auf sie gerichtete Kamerablick lässt keinen Zweifel an den entsprechenden Intentionen. Viel männliche Haut wird abgescannt in diesem Film. Da die Mutter der Brüder aus Algerien stammt, handelt es sich zudem um dunkle Haut; das erhöht den Marktwert.

Arabische heterosexuelle Jünglinge bei ihrem Potenzgerangel in Szene zu setzen hat natürlich weit mehr Reiz, als auf das immer gleiche Personal zurückzugreifen. Es liegt hier also die bewusste Inszenierung voyeuristischer Objekte vor – was an sich noch nicht verwerflich ist. Gerade im Vergleich zu Larry Clark fällt aber auf, dass Morel keine adäquate erzählerische Struktur findet. Entwerfen Clark und sein Drehbuchautor Harmony Korine stets hochkomplexe und überraschende Konstellationen, die sich von herkömmlichen Plots emanzipiert haben, stochert Morel unentschlossen in den konventionellen Bruchstücken seiner Geschichte herum. Die offene Form erscheint lediglich als ein Vorwand für Zielgruppenkalkül. CLAUS LÖSER

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