Nicht alle wollen mit Putin den Sieg feiern

Die Staatschefs von Estland und Litauen sagen ihre Teilnahme an den Moskauer Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des sowjetischen Sieges über Nazideutschland ab. Polens Präsident will die Reise antreten. Einen Boykott findet er wenig hilfreich

VON KLAUS-HELGE DONATH
UND GABRIELE LESSER

An den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestages des sowjetischen Sieges über Nazideutschland am 9. Mai in Moskau nehmen die Präsidenten Litauens und Estlands nicht teil. Drei Monate innenpolitischer Diskussion waren der Entscheidung vorausgegangen, die Vladas Adamkus und Arnold Rüütel, letzte Woche bekannt gaben. Für Verwunderung sorgte Lettlands Präsidentin Vaira Vike-Freiberga, die sich dem Reiseboykott nicht anschloss. „Wir sind keine siamesischen Drillinge“, erklärte sie. Nicht zu Unrecht eilt ihr in Moskau der Ruf einer knallharten Lady voraus.

Die Zusage der streitbaren Lettin enthielt ausreichend Zündstoff: Als Rechtsnachfolgerin der UdSSR sei Russland verpflichtet, die Besetzung der baltischen Staaten anzuerkennen. Das Kriegsende sei auch gleichbedeutend mit dem Beginn einer „brutalen Okkupation durch eine andere totalitäre Macht, die Sowjetunion“. Die Rote Armee befreite die Balten zwar vom Faschismus, statt Freiheit und Selbstbestimmung hatte sie aber 50 Jahre Okkupation und eine totalitäre Diktatur mit hunderttausenden Opfern im Tornister.

Die Balten verlangen von Russland seit Jahren, die Besetzung anzuerkennen und den Molotow-Ribbentrop-Pakt, der die Einflusssphären in Osteuropa zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion aufteilte, für völkerrechtswidrig zu erklären.

Moskau sieht dazu keinen Anlass. Im Februar rechtfertigte Präsident Putin den Pakt als Maßnahme, „Staatsinteressen zu wahren und die Sicherheit der westlichen Grenzen zu garantieren“. Die Duma verabschiedete eine Resolution, die ausdrücklich den 60. Jahrestag der Befreiung des Baltikums würdigte.

Nach den Feiern sollten auch bilaterale Vereinbarungen unterzeichnet werden. Dazu kommt es nicht. Moskaus Entwurf hebt die Lage der russischsprachigen Minderheiten hervor, unterschlägt aber die Besatzungszeit und plädiert für „ein neues Kapitel in den bilateralen Beziehungen“. Das klingt unverfänglich, würde die Geschichte aber der Vergessenheit überantworten, fürchten die Balten. Zudem wären sie in der Minderheitenfrage dem Nachbarn direkt rechenschaftspflichtig.

Ohne Zustimmung zu den Vereinbarungen weigert sich Russland, die Grenzverträge mit Estland und Lettland zu unterzeichnen. „Moskaus Geduld hat ein Ende, wir sollten die Balten daran erinnern, dass Russland ein mächtiges Land ist“, meinte Kreml-Berater Wjatscheslaw Nikonow. Nur dem Willen der russischen Führung sei es zu verdanken, dass die Staaten 1991 Selbstständigkeit erlangten. Dieser Logik folgt auch das Außenministerium. Kurzum: Der Beitritt zur UdSSR erfolgte freiwillig.

Auch in Polen ist ein heftiger Streit darüber entbrannt, ob Präsident Aleksander Kwaśniewski am 9. Mai 2005 in Moskau an den Gedenkfeiern zum Kriegsende teilnehmen soll. Die Teilnahme würde ein stilles Einverständnis mit der Konferenz von Jalta im Februar 1945 suggerieren. Damals hatten Großbritannien, USA und UdSSR Polens Grenze zugunsten der Sowjetunion um 180.000 Quadratkilometer nach Westen verschoben.

Wenn am 9. Mai in Moskau nicht auch daran erinnert werde, dass Polen 1945 zwar von den Nazis befreit wurde, aber rund die Hälfte seines Territoriums im Osten verlor und für Jahrzehnte in die Abhängigkeit der Sowjets geriet, solle Kwaśniewski nicht fahren. Zudem sei es als offener Affront zu werten, dass Putin den Polen nicht die letzten Akten zu den sowjetischen Massenmorden an den polnischen Offizieren in Katyn 1940 geben wolle.

Nach einem Besuch in Litauen entschloss sich Kwaśniewski dann doch, nach Moskau zu fahren. Der Gedenktag sei kein wissenschaftliches Symposium, auf dem jeder seine Argumente vortrage und die Geschichte bewerte, so Kwaśniewski im polnischen Rundfunk. „Wir feiern in Moskau den Sieg über den Faschismus. Und man muss anerkennen, dass die Russen einen großen Anteil an diesem Sieg haben, dass sie Millionen Opfer gebracht haben. Sie haben ein Recht darauf, dass die Welt dieser Opfer im positiven Sinne gedenkt.“ Dies ändere nichts daran, dass Europa nach 1945 geteilt war und Polen in der sowjetischen Einflusssphäre gelegen hätte, wie auch Litauen, Lettland und Estland. „Darüber muss man reden“, so Kwaśniewski. Ein Boykott der Feiern helfe nicht weiter.