Die Bahn rollt aus dem Gleisbett

Die Schiene gehört zur Bahn, die Bahn jedoch nicht mehr zur Schiene. Sie will Güter lieber auf der Straße oder in der Luft als auf Gleisen transportieren

VON ANNETTE JENSEN

Was unterscheidet die Bahn von anderen Verkehrsmitteln? Ist doch klar, sie fährt auf der Schiene. Denkste! Die Deutsche Bahn rollt immer häufiger über die Straße, hebt in die Wolken ab oder schwimmt auf dem Wasser. Und wenn es nach DB-Chef Hartmut Mehdorn geht, kreuzt sie demnächst sogar im großen Umfang die Ozeane. Kürzlich hat Mehdorn seinen Aufsichtsräten laut Süddeutscher Zeitung angekündigt, das Unternehmen strebe die „Marktführerschaft im Seeverkehr“ an.

Schon längst sieht die Güterverkehrstochter der DB ihr Hauptaktionsfeld nicht mehr im Gleisbett. Nach dem Kauf des international aktiven Logistikkonzerns Schenker erwirtschaftet die DB Transport und Logistik zwei Drittel ihres Umsatzes mit Transporten, die fast vollständig per Lkw oder Flugzeug abgewickelt werden, und zwar hochprofitabel. Dagegen trägt die schienengebundene DB Cargo, die inzwischen unter dem Namen Railion firmiert, kaum 30 Prozent zum Umsatz bei – und produziert seit Jahren rote Zahlen.

So steht immer häufiger DB drauf, wo gar keine Bahn mehr drin ist. Und dieser Trend wird sich fortsetzen. „Unser Markt ist nicht der Bahnverkehr, unser Markt ist die Mobilität“, sagt Mehdorn. Doch allzu klare Verhältnisse will er dann doch lieber nicht. Weil etwa Güterchef Bernd Malmström sich dafür einsetzte, Schenker nicht länger mit Railion zu belasten und die Geschäftsbereiche klar zu trennen, bekam er die Kündigung. Malmströms Strategie hätte nicht nur die Chance zur Quersubvention verbaut, sondern auch die aus der Zwitterstellung der DB rührenden Probleme verschärft.

Im Prinzip steckt die DB AG nämlich in einer unlösbaren Klemme: Während ein rein betriebswirtschaftlich rechnendes Unternehmen seine permanenten Verlustbringer abstoßen würde, darf die DB diesen Weg nicht fahren. Schließlich hat sie – immer noch ein staatliches Unternehmen – auch einen verkehrspolitischen Auftrag.

Ein Abschied vom Schienengüterverkehr ist deshalb ebenso wenig durchsetzbar wie die grundsätzliche Ablehnung ökonomisch völlig aberwitziger Projekte, mit denen sich Landes- und Bundespolitiker schmücken wollen. Dabei handelt es sich vor allem um milliardenteure ICE-Trassen oder Prestigeprojekte wie den unterirdischen Bahnhof „Stuttgart 21“, den die baden-württembergische Landesregierung jetzt vorfinanzieren will, um den Bund so langfristig in die Pflicht zu nehmen.

Zentrale Güterverkehrsprojekte dagegen verlocken niemanden zu einem derartigen Einsatz. So liegt zum Beispiel die Ausbautrasse Karlsruhe–Basel, über die der Verkehr vom Rotterdamer Hafen bis nach Italien rollen soll, abgesehen von ein paar kosmetischen Maßnahmen auf Eis. Dabei will die Schweiz den 57 Kilometer langen Gotthardbasistunnel spätestens 2016 fertig gestellt haben; dann sollten auch die Zubringer in Deutschland klar sein. Doch danach sieht es nicht aus. „Ein Jahr Verspätung wäre wohl kein Problem“, meint David Demicheli vom Schweizer Bundesamt für Verkehr. In der Mittelfristigen Finanzplanung der DB aber ist bereits heute von 2019 die Rede. Bis zur Fertigstellung fehlen knapp 3 Milliarden Euro – das ist etwa so viel, wie die DB in den Jahren 2004 bis 2008 insgesamt für Neubauprojekte zur Verfügung hat.

Angesprochen auf den einstigen Plan der Bundesregierung, den Güterverkehr auf der Schiene bis zum Jahr 2015 zu verdoppeln, antwortet der Sprecher des Stolpe-Ministeriums Michael Zirpel: „Das war lange kein Thema mehr. Aber ich wüsste auch nicht, dass das inzwischen in Frage gestellt worden ist.“

Tatsächlich dümpelt der Güterverkehr auf deutschen Schienen inzwischen bei gerade noch 14,5 Prozent Marktanteil, während fast 70 Prozent der Waren über die Straßen transportiert werden, wie die EU-Kommission vor kurzem errechnet hat. Vieles spricht dafür, dass sich diese Schere künftig noch weiter öffnet. Denn statt auf- wird bei den Schienen abgebaut. In den kommenden fünf Jahren will die DB 5.200 Kilometer Gleise und rund ein Viertel ihrer Weichen entfernen. „Dabei handelt es sich aber ausschließlich um Schienen und Weichen, für die es keine Nachfrage gibt und die wir deshalb nicht mehr brauchen“, betont der Bahnsprecher. Als Beispiel nennt er Teile von Rangieranlagen und Abstellplätze.

Ob aber das Streckennetz selbst tatsächlich unangetastet bleibt, scheint fraglich. Denn wie das Eisenbahnbundesamt bestätigt, wurden bereits in den vergangenen zehn Jahren 5.024 Kilometer Strecke stillgelegt. Kritiker monieren zudem, dass die DB das Netz auf ihre aktuellen Bedürfnisse zuschneide und damit Wachstumschancen für den Schienenverkehr verspiele.

Schon heute fehlen zum Beispiel auf der für den Gütertransport wichtigen rechten Rheinschiene an vielen Stellen Überholgleise, merkt der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) an. Ohne solche Ausweichstellen aber reduzieren sich die Kapazitäten, weil langsamere und schnellere Züge das gleiche Gleis benutzen und einander nicht überholen können.

Dabei halten viele Verkehrsexperten den schrumpfenden Schienentransport keineswegs für ein Naturgesetz, sondern für eine Folge der weitgehenden Monopolstellung der DB. Der Konzern verfügt über das Netz – und damit über den Zugang. Die Entscheidung, weitere Weichen und Ausweichstellen abzubauen, wird unweigerlich dazu führen, dass DB-Konkurrenten künftig noch häufiger hören: Sorry, keine Kapazitäten frei.

Immerhin greift das Eisenbahnbundesamt inzwischen häufiger ein und verbietet offensichtliche Diskriminierungen. So hat die Aufsichtsbehörde vor kurzem den 10-prozentigen Preisaufschlag für Transporte außerhalb des regelmäßigen Fahrplans untersagt. Außerdem nimmt sie gerade die neuen Bahnhofsgebühren kritisch ins Visier, durch die sich mehrere DB-Konkurrenten benachteiligt fühlen. Vor Gericht hat die DB Ende Januar ebenfalls eine Schlappe erlebt: Ein Frankfurter Gericht gab dem Transportunternehmen Rail-4-Chem Recht, das sich über die Bevorzugung von Railion bei den Strompreisen beschwert hatte.

Doch auch wenn die DB selbst immer häufiger auf Autobahnen oder Landstraßen unterwegs ist, will sie ihr Gleisbett weiter ganz allein besitzen. Schiene und Bahn gehören schließlich untrennbar zusammen, lautet die Argumentation von DB-Chef Mehdorn. Bahn und Schiene dagegen inzwischen nicht mehr.