Cum ira et studio

Mit der Würde des Juristen und der Wucht der Metaphernschleuder: Der Journalist Heribert Prantl hat eine Wutrede zur Verteidigung der Sozialsysteme aus christlich-bürgerlicher Perspektive verfasst – der Essay „Kein schöner Land“

Heribert Prantl ist derzeit in der auflagenstarken Tagespresse, was Ottmar Schreiner in der SPD-Fraktion, was Horst Seehofer in der Union, was Peter Bofinger in der Wirtschaftsprofessoren-Szene ist: der Anti-Neoliberale, der Reformgegner, der Rächer des Sozialstaats. Im Unterschied zu den Genannten ist Prantl allerdings noch kein Paria. Jetzt hat der Redakteur der Süddeutschen Zeitung alle Kommentare, die er seit Verkündung des Kanzlerprogramms „Agenda 2010“ im März 2003 geschrieben hat, zusammengeschüttet. Jedenfalls liest sich sein neues Buch so. Es heißt „Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit“.

Prantl verteidigt den Sozialstaat gegen seine Verächter und Schlechtredner, dass es eine Art hat. Zweierlei zeichnet seine 200-seitige Wutrede aus. Erstens ist Prantl von Haus aus Jurist. Seine argumentative Grundlage ist daher das Verfassungsgebot der Sozialstaatlichkeit und dessen Fortsetzungen: das Arbeitsrecht etwa, das die Arbeitnehmer vor der arbeitgeberlichen Willkür schützt. Der Bezugsrahmen der Juristerei verleiht dem Autoren – wir leben in Otto-Schily-Land – Autorität und schützt so vor dem typischen Vorwurf gegen alle Sozialstaats-Fans: Sie seien hoffnungslose Romantiker.

Zweitens ist Prantl Bildungsbürger. Sein rhetorisches Instrumentarium reicht über den Grimm’schen Märchenschatz bis zu Aristoteles’ ethischen Schriften. Kein gesetzgeberischer Akt bleibt bei Prantl ohne einen historisch-narrativen Vergleich, der meist mit einem lateinischen Zitat eingeleitet wird. Hierdurch sichert sich der Autor Anerkennung beim bildungsseligen, auch konservativen Publikum.

Mit der Würde des Juristen und der Wucht der Metaphernschleuder trägt Prantl viele schon bekannte und auch manche neue Argumente gegen den Abbau des Sozialstaats zusammen: dass die neoklassische Ökonomie in Deutschland seit den 90er-Jahren zwar allein herrschende Lehre ist. Dass deshalb das Dogma von der Hartz-IV-Alternativlosigkeit aber noch lange nicht unbezweifelt bleiben darf. Dass der Staat sich durch Steuersenkungsmaximen selbst amputiert und noch nicht einmal bei den Grundbesitzern seinen Tribut fordert, deren Reichtum sich exponentiell vermehrt.

Besonders verdienstvoll ist Prantls Hinweis auf eine dreißigjährige Tradition der Schmähung: Erst wurden Flüchtlinge zu Asylmissbrauchern, dann Arbeitslose zu Sozialmissbrauchern. Was die Gesellschaft erst an den „Fremden“ durchexerziert – Ausgrenzung, Beschneidung von Rechten und materiellen Möglichkeiten –, überträgt sie dann auf die restlichen Armen. Auch die jahrzehntelange Vernachlässigung der Hauptschüler darf so verstanden werden: Nichtdeutsche Kinder sind uns nichts wert – und die, die genauso arm sind wie die fremden, auch nichts.

Schmissig und radikal wirken Prantls Vorwürfe deshalb, weil sie sich im Kontext eines begütert-gebildeten, stark christlich geprägten Verständnisses von Gesellschaft bewegen. Das macht die Stärke des Buchs aus: Prantl, das ist bürgerlicher Sozialstaats-Rock. Genau hier sitzen aber auch die entscheidenden Schwächen: Das Buch wird immer dort ungenau, wo bürgerliche Werte von links verteidigt werden sollen.

Beispiel Familie. Eines seiner sieben Kapitel widmet Prantl dem Umstand, dass Kinder nach wie vor ein Armutsrisiko sind. Die Gesellschaft verlangt nach künftigen Rentenbeitragszahlern, setzt aber kaum Anreize, sie zu produzieren. Stimmt alles. Und doch ist Prantls Schluss falsch und überzogen: Familien sind heute eben nicht „großenteils überfordert und an den Sozialhilferand gedrückt“.

Ein Blick in die Statistiken verrät, dass der wohlbestallte Mittelstand immer noch großenteils aus Papa-Mama-zwei-Kinder-Familien besteht. Ein wichtiger Teil der typischen Großstadtarmen dagegen sind Singles ohne jeden Familienanschluss, vor allem aber Alleinerziehende. Arme vielköpfige Familien sind übrigens meist nichtdeutscher Herkunft. Wer die Familie gegen Armut verteidigt, sollte also zwischen dem blonden Zweigenerationenklub im Saab-Kombi und den wirklichen Armutsopfern unterscheiden.

Beispiel Hartz IV: Prantl geißelt, dass ehemalige Arbeitslosenhilfeempfänger nun ihre Ersparnisse aufbrauchen müssen, bevor sie Arbeitslosengeld II bekommen: „Der Sozialstaat kassiert privates Kleinvermögen von anständigen Leuten.“ Ja. Sind Sozialhilfeempfänger, denen es schon immer so ging, eigentlich keine anständigen Leute?

Die anderen sind stärker. Der Sozialstaat hat derzeit mehr engagierte Feinde als engagierte Verteidiger. Die meisten Linken wissen nicht, wie Arbeitslosen-, Renten- und Krankenkasse funktionieren. Wutreden sind wichtig, um die Gewichte im öffentlichen Diskurs zu verschieben. Das Wichtigste aber zur Herstellung von Gerechtigkeit sind Argumente, die keine neuen Ungerechtigkeiten produzieren.

ULRIKE WINKELMANN

Heribert Prantl: „Kein schöner Land“. Droemer/Knaur, München 2005, 208 Seiten, 12,90 €