Ich-Zerrieselung

Abgesplitterte Zeitpartikel: In der Siegfried-Kracauer-Werkausgabe des Suhrkamp Verlags sind jetzt die Romane „Georg“ und „Ginster“ erschienen

„Ginster“ stimmt mit der Biografie des Autors von 1914 bis 1918 überein Kracauer nimmt das Gerede beim Wort: Er lässt Zeitungen Krieg führen

VON OLIVER PFOHLMANN

Anfang der Zwanzigerjahre bezeichnete Siegfried Kracauer die Angehörigen seiner Generation als „abgesplitterte Partikelchen im verrinnenden Zeitstrom“. Metaphysisch obdachlos geworden, sehnten sich die Intellektuellen der Zwischenkriegszeit nach Gemeinschaft und heimeligen Unterständen. In seinem frühen Essay „Die Wartenden“ hat Kracauer ihre verzweifelte Suche nach neuen Refugien inventarisiert, von Anthroposophie und Ästhetizismus bis hin zur Neomystik.

Siegfried Kracauer selbst misstraute all diesen Angeboten. Der einzige Unterschlupf, den er sich gestattete, war sein Zimmer in der Feuilletonredaktion der Frankfurter Zeitung. „Hier lebte er, für alle Menschen erreichbar und doch vor ihnen allen geschützt, in einer Art von gläserner Einsamkeit“ – so heißt es später vom Protagonisten seines zweiten Romans „Georg“. Wie bei Kracauer ist es auch bei jenem Georg der diffuse Wunsch nach Öffentlichkeit und Engagement, der ihn nach dem Krieg zur Zeitung führt. Und wie Kracauer lernt auch Georg durch seine Tätigkeit das ganze Spektrum der Gruppierungen kennen, in die das Bürgertum sich auflöste: Jugend- und Friedensbewegte, Neukatholische und Kommunisten, Schulreformer und Sozialdemokraten.

Die Einzigen, die in diesem Porträt der Weimarer Republik fehlen, sind, ausgerechnet, die Nazis – Kracauers Roman ist zuvörderst eine beißende Bestandsaufnahme der deutschen Linken. Kein Wunder, dass das 1934 fertig gestellte Werk in den Jahren des Exils ungedruckt blieb, erst 1973 erschien es posthum und steht bis heute im Schatten von Kracauers Erstling „Ginster“.

Doch zeigt „Georg“ kaum weniger, welch begnadeter Erzähler dieser Kulturphilosoph war, dass er auf Augenhöhe mit den besten Prosaisten seiner Zeit schrieb. Als Feuilletonist diagnostizierte Kracauer mit noch heute verblüffenden Überblendungen phänomenologischer, marxistischer und psychoanalytischer Einsichten Erfolgsfilme, Bestseller und die Vergnügungsstätten der neuen Angestelltenkultur als symptomatische Äußerungen gesellschaftlicher Veränderungen. Der als „reiner Tor“ gestaltete Georg reüssiert beim Morgenboten nur durch Zufall. Seine Erfolge bei der Zeitung, die „im revolutionären Fahrwasser plätschert“, sind Missverständnisse. Georgs immer verzweifeltere Suche nach einem „Halt“ im Chaos der Phrasen und Ideologien wird von einem naiven Bedürfnis nach Wahrheit angetrieben. Wie Kracauers Ironie es will, treffen Georgs journalistische Volleyschüsse aber immer dorthin, wo die opportunistischen Redakteure und Verleger gerade das Tor aufgestellt haben. Lange Zeit zumindest.

Kracauer selbst sah in „Georg“ eine Mischung aus Gesellschafts- und Entwicklungsroman. Doch ist „Georg“, im Zuge der Werkausgabe jetzt zusammen mit „Ginster“ und frühen Prosaversuchen neu erschienen, ebenso ein Medienroman. Die Zeitung ist eine Karikatur der Gesellschaft draußen. Ein Moloch, der unablässig Zeit verschlingt. Und Menschen. Wie den Redakteur Krug, der vom Wust alter Manuskripte, längst vergessener Ereignisse heimgesucht wird. Oder den dahinsiechenden Korrektor Kummer, der, erfüllt von der Ahnung der nahenden Katastrophe, die Druckfehler noch künstlich vermehren möchte, als Warnzeichen.

Freilich ist Georg selbst, dem fortwährend die Wirklichkeit entgleitet und der das Ich „ausräumen“ möchte, ein etwas reifer gewordener Wiedergänger von Kracauers erstem Romanprotagonisten. „Ginster“, dessen Handlung weitgehend mit der Biografie des Autors in den Jahren 1914 bis 1918 übereinstimmt, erschien 1928 zunächst anonym, auf dem Höhepunkt der Kriegsromanwelle.

Doch kehrt der Roman das Genre gegen den Strich. Erst wird der junge Architekt Ginster, aus dessen Abstammung von den Figuren Charlie Chaplins der Autor keinen Hehl machte, immer wieder zurückgestellt, dann gelangt er nur einmal auf einen Schießplatz im „militärischen Hinterland“. Von wo er alsbald wieder zurück an seine „private Front versetzt“ wird: die vom Krieg zur Kenntlichkeit entstellte, ereignislose Alltagswelt, deren verbliebene Insassen sich nun eilig zu Kriegerwitwen und Kaffeehausgenerälen befördern. Mit ihr steht der um seine Individualität kämpfende Ginster, der eigentlich zu allem bereit wäre, könnte ihm nur jemand den Sinn erklären, von klein auf auf Kriegsfuß. Dabei demaskiert Ginsters nur scheinbar naiver Blick die soziale Realität. Kracauers sprachliche Komik nimmt das Gerede beim Wort, lässt die Zeitungen Krieg führen und die zu Dingen entmächtigten Menschen gegen den Feind Kartoffeln schälen und von einem Regiment Hopfenstangen in die Flucht schlagen. Die Metaphorik wird in diesem Roman stets ein Stück weiter getrieben, als der Leser es erwartet. Kracauers sprachliche Komik nimmt das Gerede beim Wort, hinein ins Absurd-Groteske.

Dem verzweifelten Ginster, der nichts will, sondern „am liebsten zerrieselte“ oder wie die gleichnamige Pflanze an Bahndämmen blühte, bleibt in der ihm fremd bleibenden Wirklichkeit nur soziale Mimikry. Und die Suche nach der rettenden „Lücke“ in den undurchdringlich scheinenden gesellschaftlichen Ordnungen. Allein seine gesteigerte Rezeptivität ermöglicht ihm die Flucht ins Formlose, ein Sichverlieren beim Anblick sinnfreier Muster und Ornamente. In ihrer Sehnsucht nach einem utopischen Zustand jenseits von sozialen Zwängen, Körpergrenzen und Geschlechterrollen sind Kracauers Figuren ideale Vertreter des Musil’schen Möglichkeitsmenschen.

In seinem frühen Essay konnte Siegfried Kracauer nur die Haltung des Wartens empfehlen, „ein zögerndes Geöffnetsein“ und Bereithalten für den utopischen Moment. Ginster und Georg dürfen zumindest profane Erleuchtungen erleben: Der eine fühlt sich beim Anblick eines davonfahrenden Dampfers „für einen Augenblick wenigstens aus jedem Zusammenhang gerissen“. Der andere, desillusioniert und von der Zeitung wieder entlassen, verliert sich am Ende glückstrunken im Großstadtverkehr.

Siegfried Kracauer: „Romane undErzählungen“. Werke, Band 7.Herausgegeben von Inka Mülder-Bach.Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main2004, 670 Seiten, broschiert 48 €, Hardcover 72 €