Krieg dem Pöbel!

Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der Unterschicht. Die Mächte der alten Bürgerlichkeit und des Dünkels haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, die „Zeit“ und Harald Schmidt, Paul Nolte und die Montessori-Eltern

VON JAN FEDDERSEN

Durch Harald Schmidt kam das Wort zwar nicht in die Welt – aber zu akzeptablem Klang: „Unterschichten“. Man darf wieder Klartext reden, so musste die Botschaft verstanden werden, ein Tabu schien gebrochen. Unterschicht. Die allenfalls elaboriertere Vokabel für gleich gemeinte Worte. Nämlich Plebs, Pöbel, Proll, Assi und white trash, Abschaum. Nicht gesellschaftsfähig! Pack?

Das Wort zieht Kreise, in bürgerlichen Zirkeln vor allem. Kein Zufall, dass gerade sie die keineswegs mehr nur feine Grenzlinie zu jenen Milieus ziehen, denen sie partout nicht angehören wollen. Die Zeit beispielsweise widmete jüngst einen Teil einer Ausgabe implizit („In den Stahlgewittern des Kapitalismus“) oder explizit („Die neue Unterschicht“) den Plebejern. Die Assoziationen scheinen eindeutig. Unterschicht – das sind Menschen, die ihre Kinder verwahrlosen lassen, die sich nicht um das Pausenbrot für ihre Kinder kümmern, bildungsfern agieren, die zu viel Bier trinken und Schnaps, die hässliche Interieurs bevorzugen, in viel zu grellen Farben und in Materialien, nix öko, kein bio. Unterschicht – das sind Menschen, die aufgeschwemmt aussehen und häuslich auf dem neuesten Stand der Unterhaltungselektronik (hoher Neidfaktor!) sind. Unterschicht – das sind Menschen, die sich volldröhnen, alkoholisch und medial, und keinen Blick für die Nächsten haben, nicht mal auf die eigene Familie.

Aber stimmen diese Beobachtungen überhaupt? Trifft überhaupt zu, was, ebenfalls in der Zeit, in einem Leitartikel stand – in dem von der „Resozialisierung der Unterschichten“ die Rede war? Ist des Essayisten Paul Nolte Befund („Generation Reform“) überhaupt genießbar, nach der die Unterschichten allzu schlecht essen, die, wenn überhaupt, falschen Bücher lesen, sodass ihnen alle Lebenschancen durch eigene Bequemlichkeit verhagelt sind? Spricht aus seinen (und anderen, ähnlichen) Bemerkungen tatsächlich nur eine paternalistische Mentalität der Sorge um eine friedliche, nicht feindselig aufgeladene Bundesrepublik?

Was ist nur passiert, dass die proletarischen Schichten eine derart argwöhnisch gestimmte Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Was hat sich geändert, seit Günter Grass 1966 ein Stück schrieb, das „Die Plebejer proben den Aufstand“ hieß? Ein Schriftstück nah am Zeitgeist. Wie auch Texte von Günter Wallraff oder Max von der Grün, die von proletarischen Lebenswelten erzählten – ohne selbst am Dünkel zu ersticken.

Jüngst noch waren die Prolls Helden, Lifestyleprofiteure. Sie waren es, die für Körperkult jedweder Art die Rollenmodelle abgaben – materialisiert in der Fülle an Muskelstudios, die es schon gab, als das Wort Wellness noch nicht erfunden war. Die außerdem die Ersten waren, welche sich tätowieren ließen – und piercen, ehe Statements auf der Haut auch in den feineren Vierteln getragen wurden. Proleten waren es, die die Privatsender erfolgreich machten – und die ARD zu einem auf sämige Mittelschichtsgefühle abonnierten Sender quotendeklassierten. Der Müll der Gesellschaft suchte sich seine Ikonen – und die hatten viel Drastisches, Zotiges, Obszönes, Direktes, Indezentes. Hella von Sinnen, Hugo Egon Balder, Stefan Raab, Axel Stein, Anke Engelke, Dirk Bach oder Barbara Salesch. Leutseliges Personal – und Peter Klöppel als Nachrichtenonkel, der den niederen Ständen zu erläutern versteht, was Sache ist.

Proleten waren es, die keinen Schlagermove brauchten, weil sie schon immer Musik zu nichts anderem denn Unterhaltung hörten. Für sie musste auch keine Spaßgesellschaft erfunden werden, weil sie schon immer ihr Leben unter die Überschrift Spaß stellten. Der Satz, man arbeite, um zu leben, und lebt nicht, um zu arbeiten, ist im Proletenmilieu erfunden worden: Bis dieses Credo in allen Klassen als okay galt.

Den körperlich schuftenden Klassen anzugehören, war in der DDR kein Makel. Wer in Ostberlin als Intellektueller was werden wollte, durfte sich den Proletenjargon nicht abgewöhnen – oder sollte ihn sich besser angewöhnen.

Harald Schmidts ironischer Kommentar zu seinem einstigen Arbeitgeber ist ja ohnehin absurd – jede einschlägige Mediennutzerstudie besagt: Gameshows, Daily Talks, Comedy und andere Programme ohne „Kulturzeit“-Appeal werden vom Bevölkerungsdurchschnitt gern gesehen, also auch von Menschen mit Hochschulstudium – und zwar ebenso stundenlang wie von Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen oder Kindern, weil ihnen nicht nach ganzheitlich belagernder Fürsorge ist.

Im Grunde scheint es sich um Fälle von Verachtung zu handeln. Für Menschen, die sich – schlimmstenfalls – nicht mal für die Kultur der Mittelschichten interessieren. Denen kein Slowfood zusagt und denen nicht wichtig ist, ob ihre Kinder nach Methoden der Frau Montessori erzogen werden. Kurz: Die Kritik an Proleten, an ihren Aggressionen, an ihrer Wut, an ihren Freuden und Gelüsten, richtet sich nie gegen die materiellen Lebensverhältnisse, denen sie ausgesetzt sind, sondern vornehmlich gegen ihre Geschmäcker und Gewohnheiten.

Was auf die aktuellen Bildungsdebatten (Pisa!) verweist – und auf die Fantasien, die im Zusammenhang mit Armutsbeschleunigungsprogrammen wie Hartz I bis IV geweckt werden. Denn um sie geht es in Wahrheit, um die Angst der Mittelschichten um ihre Pfründen, ihr soziales, kulturelles oder auch finanzielles Kapital – ihre Furcht vor dem Abstieg. Sie wollen nicht zu jenen gehören, die in ihrer Vorstellung den Bodensatz der Gesellschaft verkörpern, nicht zu jenen, die sie sich nur roh und rau vorzustellen vermögen.

Die Sorge um das Unterschichtige ist mithin eine versteckte Abwehr dessen, was schon immer da war – und wozu man nicht gehören möchte. Vor dem man sich schützt, und sei es durch Hochnäsigkeit, also Dünkel. Die „Resozialisierung“ der niederen Stände wäre kein schlechtes Projekt: Aber meint sie wirklich die Verbesserung der Lebensumstände – oder nur eine Kritik der kulturellen Formen, verbunden mit Ratschlägen, besser zu essen, mäßiger zu trinken (und lieber Wein als Fusel) und das Rauchen einzustellen?

Davon abgesehen, dass das alles lebensfern wirkt und wie eine calvinistische Predigt, wäre dieses Reformprogramm tatsächlich von surrealer Blödheit. Denn es gibt ja keine Belege dafür, dass es kulturelle, psychosoziale Verwahrlosungen im mittel- ober oberschichtigen Bereich nicht gäbe: Sie können nur smarter ausgehalten werden.

Wird jedoch wirklich mehr öffentliches Geld in den proletarischen Schulsektor investiert? Ist das Fordern der Unterschichten mit ihrem Fördern verbunden? Keine Spur: Die Ghettos bleiben allein gelassen – auch dies ein fühlbarer Unterschied zu den Sechzigerjahren, als aus den proletarischen und kleinstbürgerlichen Schichten das Gros der heutigen Mittelschichten per Bildungspolitik rekrutiert wurde.

Was das ganze Unterschichtengerede in unseren Kreisen wirklich erst zu einer prekären Frage machte, war und ist der stets mögliche Wahlerfolg von NPD oder DVU: Ist Sachsen der Beweis für die aufgedunsene Wut des white trash? Ist der Abschaum, sind die Unterschichten in puncto Demokratie unsichere Kantonisten? Das Meiste spricht dagegen. Wer die NPD wollte, hat sie des Programmes wegen gewählt – nicht aus einer Protestlaune heraus.

Ohnehin verschweigt eine solche Annahme, dass der Nazismus zwar auch eine Volksveranstaltung wurde – hauptsächlich aber eine, die von abstiegsfürchtenden Mittelschichten angefeuert worden ist. Die NPD droht nicht groß zu werden – wenn die so genannten Unterschichten tatsächlich Jobs finden könnten. Wenn sie jenseits von Hartz-IV-Almosen Geld verdienen könnten, das sie nicht zu Abhängigen macht. Wenn sie – falls dieses kollektivierende sie überhaupt berechtigt ist – in der Lage wären, sich für ein besseres Leben selbst zu organisieren.

Wer Unterschichten sagt, Proleten meint und vom „Elend der Welt“ (Pierre Bourdieu) nichts wissen will, kennt die Leben der so genannten einfachen Leute nicht. Und weiß nicht, wie sie ackern und doch auf keine soziale Verlässlichkeit bauen können. Erschöpft sind nach vier Putzstellen pro Tag oder 70 Stunden pro Woche hinterm Steuer.

Die Plebejer proben trotzdem keinen Aufstand. Muss das nicht wundern?