„So jagen wir dem Sozialismus nach“

Wie man Stalins Gulags überlebt und trotzdem bis zuletzt ein Linker bleibt. Zum Tod von Nathan Steinberger

VON ANTJE BAUER

Schon lange vor dem Fall der Mauer fuhr alle paar Monate ein kleiner alter Mann mit einer dünnen Aktentasche von der Hauptstadt der DDR nach Westberlin. Dort angelangt, begab sich Nathan Steinberger zumeist direkt in die Rankestraße nahe dem Bahnhof Zoo, wo ihn Freunde erwarteten: Alt-68er, ehemalige Trotzkisten, Sympathisanten der Grünen, ehemalige Mitglieder des Bahro-Komitees, Dissidenten aus dem Ostblock – allesamt Personen, denen das SED-Regime tiefes Misstrauen entgegenbrachte. Mit ihnen tat Nathan Steinberger das, was ihm im Leben am wichtigsten war: offen reden. Über die Versteinerung des DDR-Regimes und die Reformbewegungen in den Ländern des „realen Sozialismus“, über die Linke in der Bundesrepublik, über den Eurokommunismus.

Am meisten aber sprach Nathan Steinberger über den Stalinismus. Er analysierte das Stalin’sche Terrorsystem in wohl gesetzten Worten, mit Leidenschaft und gelegentlichem Sarkasmus. Steinberger wusste, wovon er sprach: Stalins Terrorregime hätte ihn fast das Leben gekostet. „Ich möchte, dass die Menschen begreifen, dass ein Wiederaufleben des Sozialismus ohne eine Aufarbeitung der Geschichte des Stalinismus nicht denkbar ist“, sagte er. Ein Wiederaufleben des Sozialismus, davon träumte Nathan Steinberger. Auch noch im Jahre 2005. Da war er 94.

Wenn er wieder zurückfuhr nach Ostberlin, war seine Aktentasche prall gefüllt mit Büchern. Manchmal musste er die Tasche unter den Blicken der Grenzbeamten öffnen, und wenn sie missbilligend den Inhalt betrachteten, sagte Steinberger freundlich lächelnd: „Ich habe meine Strafe bereits abgesessen.“ Er durfte die Bücher mitnehmen. Schließlich war er Professor. Wenn auch ein unbotmäßiger.

Schon als Schüler war Nathan Steinberger fasziniert von linken Ideen aller Art. Mit 14 wurde er Mitglied des anarchistisch gefärbten „Schwarzen Haufens“. „Ein Mühsam und solche Leute, das waren für uns Götter“, sagte er später. Störend fand er allerdings, dass sich mit diesen Göttern keine echte Politik machen ließ. So trat er kurz danach einer ganzen Reihe von Unterorganisationen der KPD bei. Da er sich auch der Gruppe von Karl Korsch angeschlossen hatte, die trotzkistischen Ideen nahe stand, wurde Steinberger aus dem Kommunistischen Jugendverband wieder hinausgeworfen. Das hinderte ihn freilich nicht, weiterhin den KPD-Organisationen die Treue zu halten.

Im hohen Alter witzelte er zwar, die Kommunistische Studentenfraktion (KoStuFra) etwa sei eine „Sekte“ gewesen – dennoch blieb er bei der „Sekte“, hielt Marxismusschulungen ab, ging mit den Genossen wandern. Kurz: Er lebte in und mit der Partei und befolgte weitgehend deren Vorgaben. Und die erstreckten sich bis ins Privatleben. „Tanzen gehen?“, sagte er einmal. „Nein, das war verpönt.“ Aber vielleicht kam es dem jungen Steinberger auch ganz gelegen, dass Tanzen als bürgerlich verachtet wurde – er selbst schildert sich als schüchternen jungen Mann. Mit neunzehn begegnete er seiner späteren Frau. Edith Levin lernte modernen Tanz, aber vor allem war sie eine Intellektuelle mit Berliner Schnauze.

„Edith war in ihrer Parteigruppe sehr gern gesehen“; erinnerte er sich, „weil sie den Mund aufmachte, wenn ihr was nicht passte. Obwohl die ja alle sehr parteifromm waren, aber wenn jemand den Mund auftat, dann hörten sie gern zu.“ Auch wer die beiden erst im Alter kennen lernte, konnte sich ihre Rollenverteilung damals gut vorstellen: Edith mit dem lockeren Mundwerk vorneweg, Nathan kritisch, analytisch, aber eben vermutlich doch eher bereit, die Parteikonventionen zu respektieren.

Neben der Politik galt Steinbergers Interesse der gerade entstehenden Psychoanalyse. Er las Alfred Adler, C. G. Jung und alle anderen. Doch letztendlich optierte er auch hier für die „ordentliche“ Variante, für Freud. „Für mich waren die Abweichler kleine Männer. Freud, das war für mich der liebe Gott.“

1932 erhielt Nathan Steinberger das Angebot, für zwei Jahre am Institut für Agrarwissenschaft der Kommunistischen Internationale in Moskau zu arbeiten. Für einen Kommunisten war es eine große Ehre, im Dienste der Komintern in der Sowjetunion tätig sein zu dürfen. Und außerdem: „Die Sowjetunion war ein Mythos“, sagte Steinberger, „aber ein streng bewachter.“ Er wollte diesen Mythos von innen her begreifen. So zogen die Steinbergers Anfang Mai 1932 nach Moskau.

1933 kam Hitler an die Macht, und die Sowjetunion, das „Vaterland der Werktätigen“, wurde den beiden zum Gefängnis. In einem ganz wörtlichen Sinn: 1937 wurde Nathan Steinberger verhaftet und wegen konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit zu fünf Jahren Lager verurteilt. In wochenlanger Fahrt wurde er im Viehwaggon mit tausenden Leidensgenossen nach Sibirien verfrachtet, nach Wladiwostok, von dort mit dem Schiff zum Kolyma-Gebiet. Dort musste der schmächtige Mann in dünnen Lumpen bei minus fünfzig Grad den Permafrostboden aufhacken, um Goldadern freizulegen. Ihm erfroren mehrere Zehen und auch die Nase; bei der Arbeit im Bergwerk erlitt Steinberger einen Hörsturz, der später zu Taubheit führen sollte. Seine Frau Edith wurde 1941 verhaftet und für fünf Jahre in ein Arbeitslager in Kasachstan geschafft, die sechsjährige Tochter blieb bei Freunden in Moskau zurück. „Für Edith und für mich war die Lage völlig aussichtslos. Wir dachten, wir kommen nicht mehr lebend in die Freiheit. Edith berichtete, in den Nächten wachten die Freundinnen auf und fragten: Hast du dir so den Sozialismus vorgestellt?“

Zahlreiche Kommunisten nahmen sich aus Verzweiflung das Leben. Andere versuchten, sich selbst im Lager noch einzureden, sie seien aufgrund eines Missverständnisses dort und Väterchen Stalin wisse bestimmt nichts von all dem Grauen. Nathan Steinberger hegte diese Illusionen nicht mehr.

Was ihm physisch das Leben rettete, das waren vermutlich die befreundeten Ärzte, die ihn von der härtesten Arbeit freistellten, sowie eine zähere Konstitution, als seine Gestalt vermuten ließ. Seinen Lebensmut hielt erhielt er aufrecht, indem er sich Gedichte von Heine und Uhland vorsagte, Erinnerungen an eine andere Welt. Seine intellektuelle Widerstandskraft gegen das tägliche Grauen bezog er aus der festen Überzeugung, dass das, was in der Sowjetunion vor sich ging, mit Sozialismus nichts zu tun hatte. Den Sozialismus als Idee zu retten, ihn vom Stalinismus abzusetzen, diesem Anliegen würde er die fünfzig Jahre Leben, die ihm nach der Entlassung aus dem Lager noch beschieden waren, widmen. „Der Stalinismus ist die stärkste Form der Konterrevolution“, pflegte er zu sagen, „die Zerstörung aller Ideen der Oktoberrevolution.“

Wie er sich eine sozialistische Gesellschaft konkret vorstellte, danach fragte man ihn jedoch vergebens. „Liberté, egalité, fraternité“ deklamierte er noch im hohen Alter, wobei er das r heftig rollte. „Ich kann das nicht übersetzen in ein Bild, wie der Sozialismus aussehen sollte. Aber ich weiß, die Grundsätze der Französischen Revolution sind Bausteine, die Commune ist ein Baustein, die Oktoberrevolution ist ein Baustein.“ Dass in der Oktoberrevolution selbst, dass im Marxismus-Leninismus schon der Keim zu einem autoritären Regime angelegt sein könnte – diese Vorstellung lehnte Nathan Steinberger wie im Lager so auch den Rest seines Lebens entschieden ab.

Die Steinbergers überlebten, wie durch ein Wunder. 1955, nach Stalins Tod, kehrten sie nach Berlin zurück. Zahlreiche Familienmitglieder und fast alle alten Freunde waren umgekommen: im KZ oder im Gulag. Die Steinbergers kamen in ein geteiltes Land, in dessen einer Hälfte der Kalte Krieg das politische Klima bestimmte und in dessen anderer Hälfte Stalin noch immer Kultstatus hatte. Wenn es nach Edith Steinberger gegangen wäre, wären sie vermutlich in den Westen gegangen. Sie hasste das SED-Regime mit all seiner Repression und Verlogenheit, mit seinen Parallelen zur Sowjetunion. Aber sie zogen in die Hauptstadt der DDR. Zum einen, weil man ihnen dort Anerkennung bot: Man gab Nathan Steinberger einen Posten in der staatlichen Planungskommission und setzte seine Parteimitgliedschaft wieder in Kraft, die ihm nach seiner Verurteilung in der Sowjetunion aberkannt worden war. Die beiden erhielten eine Rente als Opfer des Naziregimes. Aber ein wichtiger Grund, in die DDR zu ziehen, war sicher auch der, dass Nathan Steinberger noch immer dem Sozialismus nachjagte.

Die „Geborgenheit“ der DDR hatte ihren Preis: Das Ehepaar wurde angewiesen, über die Erfahrungen im Lager zu schweigen. Die Sowjetunion war noch immer der Große Bruder; Opfer des Stalin-Regimes durfte es nicht geben. Nathan erzählte gleichwohl Freunden, Bekannten und Verwandten von seinem Aufenthalt im „Vaterland der Werktätigen“, sprach vom Terror und davon, dass das kein Sozialismus sei. Viele wollten ihn nicht hören. Die einen aus Angst vor der Staatssicherheit. Die anderen aus Angst um ihre Überzeugungen. Das Ehepaar Steinberger wurde ein wenig einsam. „Es gab noch ein paar Jugendfreunde“, sagte Nathan Steinberger dazu. „Aber mit den Kollegen war ich zumeist nicht befreundet.“ Tatsächlich befreundet war er mit Heiner Fink, dem späteren Rektor der Humboldt-Universität, der seinen Posten verlor, weil er IM gewesen sein soll. Steinberger focht das nicht an. „Ich wusste, er war keiner, der für die Karriere zum Verräter wurde. Und ich wusste, mich liefert er nicht aus.“

Da Steinberger das Schweigegebot verletzte, wurde er seines Postens bei der Planungskommission enthoben. Doch weiter verfuhr man pfleglich mit ihm. Man gab ihm eine Professur. Steinberger lernte die Linksabweichler im Westen kennen. Der Politikprofessor am Westberliner Otto-Suhr-Institut, Johannes Agnoli, veröffentlichte zu Steinbergers 75. Geburtstag in der taz einen Artikel mit dem Titel „Macht das Tor auf!“ – das Brandenburger Tor, das er mit seinem Freund, dem „ironisierenden Altkommunisten“, Hand in Hand durchschreiten wollte. Die Stasi beobachtete den unsicheren Kantonisten Steinberger und legte eine Akte über ihn an. Da das Ehepaar nach der Rückkehr aus der Sowjetunion der Jüdischen Gemeinde beigetreten war, gab es, wie Nathan Steinberger später aus seiner Stasi-Akte erfuhr, Überlegungen, ihn als Zionisten zu verunglimpfen, um sein Stillhalten zu erreichen. Umgesetzt wurde der Plan jedoch nicht.

Als in den 80er-Jahren die Protestbewegung in der DDR entstand, machte sich Steinberger ein letztes Mal Hoffnungen: auf einen dritten Weg. Auch diesmal wurde er enttäuscht. „Natürlich hätte ich einen Umsturz gewollt. Aber der wäre nur möglich gewesen, wenn es ihn auch im Westen gegeben hätte. Doch die reaktionären Elemente in Westdeutschland blieben erhalten.“

Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Steinberger in einem Altersheim für ehemals rassisch Verfolgte in Berlin-Zehlendorf, weit weg von Orten des politischen Geschehens. Seine Frau Edith war 2001 gestorben, aber weiterhin gab es einen steten Besucherstrom zahlreicher West- und einiger Ostfreunde, die er allesamt fest an sein Herz drückte. Sein Interesse an Politik war wach geblieben, aber politische Hoffnungsträger sah er nach der Wiedervereinigung nicht mehr. Die PDS? „Ein Mischmasch aus Idioten und Halbidioten.“ Die Grünen? „Handlungsunfähige Idealisten.“ Die SPD? Taugte nur in den 20er-Jahren. Allenfalls Lafontaine war für ihn ein Hoffnungsträger.

Eigentlich, fand er, habe er nun genug gelebt. Aber die Ergebnisse der nächsten Bundestagswahl, die hätten ihn dann doch noch interessiert. Das wäre wieder ein Thema für Diskussionen gewesen. Offen reden, debattieren, das war Nathan Steinberger am wichtigsten. Neben dem Glauben an den Sozialismus, versteht sich. Ende Februar starb Nathan Steinberger in Berlin.

ANTJE BAUER, 51, ist freie Journalistin und Mitarbeiterin der taz. Sie hat Nathan Steinberger in den 80er-Jahren in der Berliner Rankestraße kennen gelernt. In den letzten zwei Jahren hat sie eine Interviewreihe mit ihm gemacht