PETER UNFRIED über CHARTS
: Wenn der schmeichelnde Abgang fehlt

Der große Test: Gastro-Linke – sind sie wirklich so schlimm?

Dann kommt der Wein. Sie wackeln mit dem Glas, hängen die Nasen rein, schmatzen, falten die Stirn. Dann pfeifen sie die Bedienung herbei und führen ein vertiefendes Gespräch über das Potenzial dieses neuseeländischen Pinot Noirs. Dann lassen sie ihn zurückgehen. Gastro-Linke.

Ach, Gottchen. Bitte, ich habe keine Ahnung und kaufe meinen Wein bei Karstadt oder so. Aber: Reden sie nicht genauso viel und mit derselben Verve über Spätburgunder wie früher über Spätkapitalismus? Oder die Notwendigkeit von Sterilisationen angesichts der Schlechtigkeit der Welt. Sind sie nicht genauso engagiert wie einst in der Friedens-, der Anti-AKW-Bewegung, dem Kampf gegen die Unterdrückung von Nachrichten oder der liebevollen Vorbereitung einer Stadt-Guerilla? Mindestens. Wenn nicht noch mehr. Und haben sie nicht noch immer die alten, geröteten Gesichter? Ja, haben sie. Nur dass die Rötung nicht mehr von der Wut über den Staat kommt, sondern vom Saufen.

Ja, ihre historische Zäsur ist nicht mehr 1945 oder 1968. Und schon gar nicht 1989. Sondern 2003. Ein Sommer, wie wir ihn nie wieder leben werden. Ein komplizierter, aber großer Jahrgang. Wenn sich genug zusammentun, die dieses Erlebnis gemeinsam teilen, könnte sich um diesen Jahrgang herum ein kollektives Bewusstsein bilden, das eine neue Generation hervorbringt: die 2003er.

Das ist ihre letzte und größte Utopie. Sonst ist ja hier in Westdeutschland praktisch alles abgearbeitet: die autoritäre Nachkriegsordnung, die Holocaust-Verdrängung. Der Atomkrieg ist auch abgewendet. Kioto ist da, die Grünen haben grade ein „Green Car Paper“ geschrieben. Na, das ist jetzt vielleicht ein bisschen ungerecht. Weil: Ab und zu rafft sich auch ein Gastro-Linker auf und wettert nicht nur gegen Chemie in kalifornischen Weinen, sondern auch mal gegen Schröder und Neoliberalismus usw. Wahrscheinlich hat ihn ein besonderes Tröpfchen in eine seltsame Stimmung gebracht. Es fällt jedenfalls auf, dass die Wein-Kolumnen der Gastro-Linken bei weitem authentischer wirken als das, was sie sonst so schreiben. In welcher Welt leben diese Menschen? Um das herauszufinden, habe ich im alternativen Reisebüro eine Tour gebucht: „Mit Gastro-Linken auf Kleinwinzertour am Kaiserstuhl“.

*

Als die Sonne hinter den Vogesen unterging, saßen wir in einem besonders schönen Weingut und probierten das Sortiment. Man muss da offenbar das ganze Sortiment durchtesten, sonst ist das nichts. Ich kann die Gespräche im Detail und in der Fachsprache leider nicht wiedergeben. Weil: In der Mitte des Tischs stand zwar ein Spuckkrüglein. Aber ich komme aus einfachen Verhältnissen und bin aufgrund einer restaurativen und anti-antiautoritären Erziehung einfach noch nicht wieder so weit, Lebensmittel auszuspucken. Schon gar nicht, wenn sie im Barriquefass gereift sind. Und 40 Euro die Flasche kosten, Abholpreis ab Weingut. Aber ungefähr lief das so: Glas wackeln, schnüffeln, schmatzen, Stirn falten. „Dem fehlt der schmeichelnde Abgang. Oder, Rudi?“ – „Der, der ist überhaupt noch zu verschlossen, Che.“ – „Hm. Aber Potenzial hat er, Rudi.“ – „Hm, großes Potenzial, Che.“ Man entschloss sich, ihn noch ein Jahr liegen zu lassen, damit die Tannine weicher werden konnten. Der Winzer sah das erstaunlicherweise genauso und rannte schnell in den Keller. Am Ende brachte er einen 2002er, der so was von abging, dass ich mich vom anschließenden Siebzehneinhalbgänge-Menü im Nobellandgasthof allenfalls noch an die Süße des Dessertweins erinnere. Es war eine große Erfahrung. Wie viel Arbeit,wie viel Kompetenz, wie viel Liebe, wie viel auch gerade moralische Überlegenheit steckt in der Suche dieser Menschen nach den wahren und guten Speisen und Getränken! Ich frage mich ernsthaft, ob ich mich nicht dieser Bewegung anschließen soll. Ja muss. Vielleicht ist, wer einzigartigen Wein trinkt, ja selbst ein bisschen einzigartig? Ich meine, verdammte Hacke: Meine Eltern waren nun mal keine Nazis, meine Kinder sind noch keine. Sonst ist auch nichts Großes in Sicht. Irgendetwas muss man ja tun.

Fragen zu Gastro-Linken? kolumne@taz.de MORGEN: Bernhard Pötter über KINDER