Auf dem Trip namens Revolution

Erkundungen für die Präzisierung der Gefühle rund um einen Aufstand (4): Die 68er und Rudi Dutschke mit ihnen waren gar keine Agenten des gesellschaftlichen Fortschritts. Vielmehr wollten sie die Gesellschaft in die Zwanzigerjahre zurückdrehen

■ Muss, wer Rudi Dutschke sagt, auch Gewalt sagen? Um diese Frage ist eine Debatte entbrannt, die auch ein aktuelles politisches und gesellschaftliches Selbstverständnis betrifft: Wie viel Abgrenzung von 68 muss, wie viel Anlehnung soll sein? Eine Essayreihe über den langen Marsch durch die Deutungen einer Revolte

VON ARNO WIDMANN

Die Debatte um Rudi Dutschkes Haltung zur Gewaltfrage ist keine. Es ist der Abwehrkampf von Leuten, die es vorziehen, mit ihren alten Ansichten nicht konfrontiert zu werden.

Wer Wolfgang Kraushaars kleine Abhandlung, vor allem aber die von ihm vorgelegten Rudi-Dutschke-Zitate liest, für den ist klar, dass im Zentrum von Dutschkes Philosophie die Revolution und damit der gewaltsame Umsturz der Verhältnisse und dessen Vorbereitung stand. Klaus Meschkat wäre der Letzte gewesen, der das – sagen wir 1968 – geleugnet hätte. Es hat wenig Sinn, mit Menschen, die die Verleugnung ihrer Geschichte zu einer politischen Tugend erklären, über Geschichte zu diskutieren.

Jeder Leser der taz, der sich ernsthaft für die Gewaltfrage in den Jahren der Studentenbewegung interessiert, möge den kleinen Band von Kraushaar, Wieland und Reemtsma lesen. Es wäre dringend erforderlich, einen ähnlichen Band zu den anderen Grundthesen der Studentenbewegung herauszubringen. Es würde genügen, einige ihrer zentralen Texte neu herauszubringen – schon wäre sie ihren Ruf los.

Die radikale Studentenbewegung, der SDS, Rudi Dutschke strebten keine Demokratisierung der Bundesrepublik an. Sie wollten den Umsturz des Systems. Alle Reformversuche wurden von den radikalen Studenten mindestens ebenso heftig angegriffen wie der berühmte „Muff von tausend Jahren“. Die „rebellierenden Studenten“ – so einer der damaligen Buchtitel – waren gegen das Ganze. Sie waren stolz darauf, gegen das Ganze zu sein. Genau darin sahen sie ihre Radikalität.

Man versteht 1968 nicht, wenn man es für eine Befreiungsbewegung hält. Eine ganze Generation ging damals auf einen Trip. Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis sie wieder davon loskam. Der Trip hieß Revolution. Von dieser Droge war der Asket Dutschke vollgedröhnt. So bereit er war, sich jedem zuzuwenden, so unfähig war er, die Wirklichkeit anders als durchs Schema „oben gegen unten“ zu sehen.

Die ihn kannten, rühmen seine Fähigkeit zuzuhören. Das beruht auf einem Missverständnis. Dutschke war höflich, aber fest davon überzeugt, dass, wer die Welt nicht einteilte wie er, das tat, weil es ihm nicht gelungen war, sich durch richtige Lektüre und richtige Praxis von der alles beherrschenden Manipulation zu befreien. Wer erst einmal einen Gummiknüppel gespürt, wer Frantz Fanon und Che Guevara gelesen hatte, dem war nicht mehr so leicht ein X für ein U vorzumachen. Diesen Wahn der „68er“ lebte Rudi Dutschke.

Eines der damaligen Zauberwörter war „Theorie“. Es ging dabei nicht darum, eine Anschauung der Welt, wie sie war, zu bekommen, sondern es gab einen Corpus von Schriften, den man zu lesen und mit einem Bleistift bewehrt durchzuarbeiten hatte. Ganz und gar uninteressant waren dabei empirische Untersuchungen. Sie wurden allenfalls rezipiert, um kritisiert werden zu können. Spannend war alles, was den Verdacht bestätigte, die Welt habe sich zu einem System zusammengeschlossen, das die Mehrheit ihrer Bewohner von seinen Vorteilen ausschlösse. Wer vorgab, die Mechanismen nennen zu können, durch die das geschah, war ein Bestsellerautor.

Wer in den Tagebüchern Dutschkes unter den hunderten von Büchern und Artikeln, die auf den 400 Seiten erwähnt werden, nach solchen sucht, die ihn wirklich beeindrucken, der wird feststellen: Heimisch fühlte er sich in den Auseinandersetzungen der Zwanzigerjahre. Es gab nicht ein Buch über die Geschichte der Bundesrepublik, das auch nur annähernd so viel Interesse in ihm geweckt hätte wie die Auseinandersetzungen in der Kommunistischen Internationale oder um den Aufbau der Sowjetunion.

Das war nicht seine Privatmarotte, das war ein zentrales Gebrechen dieser Generation. Sie blickte zurück. Im Zorn. Aber auch voller Sehnsucht.

Als es im September 1969 zu wilden Streiks kam, wurde das Proletariat wiederentdeckt. Es entstanden so genannte kommunistische Parteien und neben ihnen als bewaffneter Arm die Rote Armee Fraktion. Für die Kaderparteien hatte Dutschke, der sie an der Macht erlebt hatte, keine Sympathie. Der bewaffnete Kampf schien ihm aussichtslos, solange er die Massen nicht erreichte; aber das existenzielle Moment darin, die Tatsache, dass die RAF-Kämpfer ihr bürgerliches Leben aufgaben und alles einsetzten für die Revolution, das traf einen Nerv.

Dutschke war kein Pazifist. Der größte Teil seiner politischen Tätigkeit hatte darin bestanden, das Recht auf Militanz gegen eine Öffentlichkeit zu verteidigen, die das staatliche Gewaltmonopol meist nicht als demokratische Errungenschaft begriff, sondern darin etwas sah, das man glücklich aus dem „Dritten Reich“ hinübergerettet hatte. Als eine Tageszeitung Dutschke und seine Mitstreiter als „linke SA“ bezeichnete, bekam sie einen Leserbrief, den sie auch abdruckte: „Als ehemaliger SA-Führer verwahre ich mich schärfstens gegen Ihren Artikel. Wir weisen es zurück, mit den Teufels, Dutschkes und anderen ungewaschenen, verkommenen LSD-Schluckern in einen Topf geworfen zu werden. Die SA war der Aufstand der Anständigen gegen den damals auf allen Gebieten zutage getretenen Zerfall. Während die frommen Bürger zu träge und zu feige waren, hatte die SA allein den Kampf gegen Verseuchung und Dekadenz aufgenommen.“

Die Studentenbewegung war nicht allein in die Kämpfe der Vergangenheit verstrickt. Sie konzentrierte sich auch noch nahezu ausschließlich auf die Debatten der Arbeiterbewegung. Die Auseinandersetzungen im Liberalismus schienen ihr völlig uninteressant. Die klugen Köpfe des SDS waren so felsenfest davon überzeugt, dass Faschismus und Nationalsozialismus unumgängliche Konsequenzen des Kapitalismus waren, dass deren radikale Kritik – ihrer Meinung nach – nicht nur in eine Kritik des Kapitalismus münden musste, sondern in den Kampf um dessen Abschaffung.

Die Studentenbewegung und Dutschke mit ihr haben Deutschland nicht liberalisiert. Sie haben den Prozess der Liberalisierung dieses Landes verzögert. Sie waren nicht Agenten des Fortschritts. Sie haben ihn aufgehalten. Sie haben bis weit in die Siebzigerjahre hinein versucht, die Welt durch die in den Zwanzigerjahren bereitgestellten Gläser zu betrachten. Es dauerte Jahre, bis sie merkten, dass sie mühsam die Kratzer in ihren Brillen analysierten statt die Welt dahinter.

Wollte man Rudi Dutschke und seine Zeit verstehen, müsste man aufhören, deren verzweifelt-sehnsuchtsvollen Blick zurück zu leugnen. Rudi Dutschke war Hauptbeteiligter an dem Experiment, die Geschichte zurückzudrehen, den „fortschrittlichen Kräften“ die Möglichkeit zu geben, noch einmal neu anzusetzen.

Dabei übersahen diese Revolutionäre, dass vor ihren Augen gerade mehrere Revolutionen stattfanden, die unsere Welt und unser Weltbild radikal verändert haben. Nicht in Kuba und China, nicht im Larzac und nicht in Mosambik. Der Computerchip wurde entwickelt, die Hirnforschung verschaffte bisher für unmöglich gehaltene Einblicke, man kam dahinter, dass Affen, Wale und andere Tiere Kulturen bilden. All das – von den Quarks nicht zu reden – hätten Elemente einer neuen Theorie sein können. Für all das interessierten sich Dutschke und die Studentenbewegung nicht. Sie waren auf Tauchstation in die Zwanzigerjahre gegangen.

Der gesellschaftliche Fortschritt fand ohne diese Generation, fand gegen diese Generation statt.

Arno Widmann war erst Kulturredakteur, dann Chefredakteur der taz, dann unter anderem Feuilletonchef der Zeit. Heute arbeitet er als Leitender Redakteur der Berliner Zeitung, insbesondere ist er verantwortlich für die Meinungsseite. – Die Dutschke-Debatte wird kommende Woche fortgesetzt