„Besser, wir sterben in Darfur“

AUS OURE CASSONI CARSTEN STORMER

Erst fielen die Bomben, dann kamen die Milizen. Schon oft hatte Hashania Abakar Ahmed davon gehört, dass die sudanesische Armee und die von ihr unterstützten Janjaweed-Reitermilizen Dörfer bombardieren und niederbrennen, Frauen und Mädchen vergewaltigen und die Männer töten. Wider alle Vernunft hatten die Bewohner des Dorfes Orshey geglaubt, dass sie verschont blieben. Doch im November 2003 kam der Tod auch nach Orshey.

Erst traf eine Bombe die Hütte von Hashanias Onkel und löschte dessen ganze Familie aus; wer nicht von der Wucht der Explosion zerfetzt wurde, verbrannte. Später kamen die Reiter, um das Vieh zu stehlen und die Überlebenden zu töten. Doch da hatte sich Hashania mit ihrer Familie bereits in die Hügel gerettet. Die 26-Jährige hörte, was die Männer an den Lagerfeuern erzählten: von jungen Mädchen, die vor den Augen ihrer Mütter vergewaltigt werden, und Müttern, denen das vor den Augen ihrer Töchter passiert. Von Jungen, die erschossen werden. Von Greisen, die mit Gewehrkolben erschlagen werden. 13 Monate harrten die Überlebenden in ihren Verstecken aus – dann gab es nicht mehr genug zum Essen. Die wenigen Ziege und Schafe waren schon vor Monaten geschlachtet worden, die Hirse ging zu Ende und auch die letzten Früchte waren von den Bäumen geerntet.

Wer noch stark war und kein Gras essen wollte, machte sich auf in die Flüchtlingslager. Hashania ging mit ihren Kindern nach Westen, in Richtung Tschad. Ihr Mann brach nach Süden auf, um Nahrung für die Familie zu suchen. Bisher ist er nicht zurückgekommen.

Schon nach zwei Tagen hatten Mutter und Kinder nichts mehr zu essen. „Es reichte nicht. Wir konnten einfach nicht mehr tragen, und Esel besaßen wir nicht mehr“, sagt Hashania. Sie tranken aus Wasserlöchern, Tümpeln gefüllt mit brackigem Wasser, verseucht von Bakterien. Manchmal gaben ihnen andere Flüchtlinge etwas Hirse ab. So überlebten sie. Nach zehn Tagen erreichten sie das Flüchtlingslager Oure Cassoni im Tschad. Hashanias jüngstes Kind, die zweijährige Fatma, hing schon leblos in dem um den Rücken gebundenen Tragetuch. Akute Unterernährung stellten die Ärzte fest – sie bekam sofort angereicherte Milch. Hashania und die anderen beiden Kinder dagegen gingen leer aus. Sie seien keine akuten Fälle und noch nicht registriert, hieß es, und somit nicht als Flüchtlinge anerkannt. Ins Lager durften sie nicht.

Nun drängen sich die kleinen Kinder draußen in zerrissenen T-Shirts und Shorts dicht an ihre Mutter. Über dem Feuer kocht Tee in einem alten Kessel: Es wird das einzig Warme sein, das die Frau und ihre Kinder vor der kalten Nacht zu sich nehmen. Das bisschen Hirse im Jutesack reicht nur noch für wenige Tage – und für eine Mahlzeit am Tag. Über der Familie hängt im Baum ein Topf – mit einer Decke, dem Jutesack und einer Strohmatte ist das die letzte Habe der Flüchtlinge. „Morgen“, sagt die junge Frau. „Morgen kommt jemand, um uns zu registrieren.“

Keine Ausnahme für Kranke

Das unter UN-Leitung stehende Lager liegt nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt. Alles hier muss nach den Regeln der Vereinten Nationen laufen – für hungernde, frierende oder kranke Menschen wird da keine Ausnahme gemacht.

Zunächst muss festgestellt werden, ob jeder, der sich als Flüchtling ausgibt, auch einer ist. Es könnte sich ja ein hungriger Tschader unter die Flüchtlinge gemischt haben, und das würde gegen das Mandat der Vereinten Nationen verstoßen, das nur erlaubt, Menschen von der anderen Seite der Grenze zu helfen. Alltäglicher bürokratischer Irrsinn in einer der ärmsten Regionen der Erde. Etwa 400 Menschen – meist Frauen und Kinder – bevölkern das schmale Grün keine dreihundert Meter vom Lager entfernt. Ihre Männer sind entweder tot, versuchen woanders etwas Essbares aufzutreiben oder haben sich den Rebellen angeschlossen. „New arrivals“ – Neuankömmlinge – heißen die Leute im Jargon der Hilfsorganisationen. Viele von ihnen warten schon seit Wochen und Monaten. Sie hausen unter Bäumen und zwischen Sträuchern, in Unterständen aus krummen Ästen und Plastikplanen, die weder vor den Sandstürmen noch vor der glühenden Sonne schützen – ohne Nahrung, ohne Decken. „Warum bin ich hier?“, fragt sich Hamid Madjid, und seine Stimme bricht. „Es ist wie in Darfur.“

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat offiziell die Registrierung der Neuankömmlinge abgebrochen. „Wir müssen erst die internen Probleme des Lagers lösen, bevor wir neue Flüchtlinge aufnehmen“, sagt Pauline Frecheaud. Und interne Probleme gibt es viele. Die fangen schon bei der Lage an. Nach den UN-Richtlinien müssen Flüchtlingslager aus Sicherheitsgründen mindestens 50 Kilometer von der Grenze des Krisengebiets entfernt liegen. Oure Cassoni ist zu nahe dran und müsste eigentlich verlegt werden. Einen besseren Platz gibt es im Moment allerdings kaum. Nur wenige hundert Meter entfernt liegt ein künstlicher See.

Und noch ein Problem ist, dass niemand genau weiß, wie viele Menschen im Lager leben. 17.000 schätzt die Hilfsorganisation IRC, 24.000 sagt das UNHCR. Essen wird für 22.000 Menschen ausgegeben. Die Helfer vermuten, dass viele Familien mehrere Lebensmittelkarten besitzen und mehr Rationen erhalten, als ihnen zustehen. Und es gibt Gerüchte, dass Cenar, die tschadische Flüchtlingskommission, einen kleinen Handel mit den Essensmarken betreibt.

Die Stimmung im Lager selbst ist gereizt – fast alle haben Verwandte oder Freunde unter den „Neuankömmlingen“ vor dem Lager. Bei den täglichen Treffen zwischen Stammesführern und UN-Offiziellen in einem der Zelte wird die Spannung deutlich. Eines Vormittags kommt es fast zum Eklat. „Wann bekommen wir endlich etwas zu essen?“, ruft eine Frau in die Menge im Zelt. „Sagt nicht, dass wir still sein sollen. Unsere Kinder hungern und weinen. Sollen wir ihnen sagen, dass sie still sein sollen?“ Ein Mann schreit, dass er seine Kinder zurück nach Darfur bringen wird: „Es ist besser, wenn sie in ihrer Heimat sterben.“ Das Meeting wird abgebrochen.

Rationen werden gekürzt

Das UNHCR sieht aber offenbar keinen Anlass zum Handeln – nur ausgewählte Neuankömmlinge bekommen Hilfe. Alle 15 Tage erhalten Kinder, die kleiner sind als 1,20 Meter, sowie Schwangere und stillende Mütter Kraftnahrung und Proteinkekse. Ansonsten vertraut das Hilfswerk auf die Hilfsbereitschaft im Lager. „Die Flüchtlinge sind für ihre Handlungen verantwortlich – für sich selbst und für die Gemeinschaft. Wenn sie mehr als eine Lebensmittelkarte haben, müssen sie lernen zu teilen“, sagt Pauline Frecheaud.

In der Tat könnte die Flüchtlinge innerhalb und außerhalb des Lagers viel verbinden – 99 Prozent kommen aus dem Stamm der Zaghawa, dem auch Tschads Präsident und viele der Darfur-Rebellen angehören. Alle sind irgendwie miteinander verwandt. Doch auch das stärkste Band droht zu zerreißen, wenn die Spannung zu groß wird. „Ich verstecke immer einen Teil meiner Vorräte in meinem Zelt“, sagt Abdulrahman und blickt zu Boden. „Ich kann nicht mehr geben. Wir haben nicht genug.“

Erst vor kurzem hat das UN-Welternährungsprogramm (WFP) die Rationen gekürzt: Es bestand der Verdacht, dass die Flüchtlinge zu viel essen. Das WFP glaubt, dass die Anzahl der Flüchtlinge kleiner ist als die Zahl der ausgegebenen Rationen. Und als ob es eine Rechtfertigung sein soll, meint Pauline Frecheaud, dass es einen „Dominoeffekt“ auslösen werde, wenn alle Flüchtlinge in das Lager aufgenommen werden. „Dann hätten wir bald die gesamte Bevölkerung Darfurs in den Lagern.“

Das könnte auch so geschehen. Die Neuankömmlinge berichten, dass viele Menschen aus der Gegend um Kurnoi und Umbaro in Norddarfur sich bereits Richtung Oure Cassoni aufgemacht haben. „Hunderte oder tausende sind auf dem Weg hierher“, erzählt Hwa Hamid. Sie kam vor zwei Tagen. Wer mit Lasttieren – Eseln oder Kamelen – unterwegs war, schickt sie umgehend nach Darfur zurück, um weitere Familienangehörige zu holen oder mit Lebensmitteln zu helfen.

Auch Abdulrahman Abakar, Besitzer einiger Kamele, macht sich gerade auf seine zweite Reise zurück nach Darfur. Seine drei Frauen und fünf Kinder sind schon im Tschad. Nun will er seine Brüder und deren Familien holen.

Taban Kakonga, Notfallkoordinator vom WFP, erschreckt diese Nachricht. „Uns wird gesagt, dass keine Flüchtlinge die Grenze überqueren.“ Zwar gebe es einen Notfallplan von UNHCR und WFP, aber auch der trete erst in Kraft, wenn klar ist, dass es sich auch tatsächlich um Flüchtlinge handelt. „Wie können wir sicher sein, dass diese Menschen aus Darfur kommen?“, fragt Kakonga. Überprüfen, ob die Menschen wirklich nachts über die Grenze gekommen sind, können die UN-Mitarbeiter aber nicht – sie müssen aus Sicherheitsgründen das Lager abends verlassen haben.

Nach einer kalten Nacht bricht ein neuer Tag über Oure Cassoni herein. Das Weinen der Kinder hat aufgehört, verstört blicken sie den ersten Sonnenstrahlen entgegen. Kleine Feuer werden entzündet. Bald wird sich Hashania wie jeden Morgen auf den Weg in die Gesundheitsstation machen, um zu sehen, ob ihre kleine Fatma so weit zu Kräften gekommen ist, dass sie wie die anderen unter den Bäumen leben kann.

Doch etwas ist anders an diesem Morgen. Vor dem Lagereingang haben sich hunderte Frauen in bunten Gewändern versammelt. Als die ersten weißen UN-Autos auftauchen, fangen sie an mit den Armen zu gestikulieren, werfen sich in den Staub, deuten immer wieder auf ihren Bauch. Wenige Minuten später erscheint Flüchtlingssprecher Sharif Nuen Safi. Eine heftige Diskussion beginnt. Dann taucht tschadisches Militär auf. Der Protest erlischt sofort. Das Warten geht weiter.