Die Ärmsten der Armen im Aufstand

Erst vernichteten im ärmsten Sahelland Niger Heuschrecken die Ernten, dann vernichtete Dürre das Weideland, und jetzt erhöht die Regierung auch noch Steuern sowie Wasser- und Strompreise. Ergebnis: Armutsflüchtlinge und wachsende Massenproteste

AUS NIAMEY SANDRA VAN EDIG

Den Kopf in die Hände gestützt, die letzte Wasserrechnung auf den Knien, sitzt Hassane auf einem Stuhl in der Ecke seines Hofes und rechnet. „5.000 CFA-Franc sollen wir jetzt für Wasser zahlen“, klagt er. „Das hat sich quasi verdoppelt!“ Der Lehrer verdient im Monat 60.000 CFA-Franc, weniger als 100 Euro. Mit Frau und vier Kindern wohnt er in einem kleinen Lehmhaus mit drei Zimmern. Im Hof ist eine Pumpe, Dusche und Toilette sind auf der anderen Seite des Hofes. Fließendes Wasser gibt es nicht. Das ist zu teuer.

Auch beim Strom wird die Familie jetzt wohl sparen müssen, denn auch diese Rechnung hat sich verteuert. Und selbst das Brot ist vor zwei Wochen 33 Prozent teurer geworden. „Ohne Strom kann man leben, aber ohne Essen wird das schwierig“, meint der Dreißigjährige zynisch.

Niger ist das zweitärmste Land der Welt, und jetzt werden die Nigrer noch ärmer. Eine 19-prozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer kündigte die Regierung vor kurzem an. Das war der Tropfen, der das Fass des öffentlichen Unmuts zum Überlaufen brachte: Zehntausende demonstrierten am Dienstag vergangener Woche in der Hauptstadt Niamey, es kam zu Zerstörungen und Verhaftungen. Für Dienstag dieser Woche wurde eine erneute Massendemonstration verboten – die Antwort war ein Aufruf zum Generalstreik, der im ganzen Land massiv befolgt wurde. Es ist Nigers größte Protestwelle seit den Wirren um die Demokratisierung in den 90er-Jahren.

Die Regierung rechtfertigt die Mehrwertsteuererhöhung mit Nigers Mitgliedschaft in der westafrikanischen Währungsgemeinschaft, die eine Angleichung der Mehrwertsteuer fordert. Auch ist die Steuererhöhung eine Forderung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds. Aber laut Welternährungsprogramm werden in Niger dieses Jahr ein Viertel der 12 Millionen Einwohner von Hunger bedroht sein.

Die letzte Ernte in dem Sahelland war sehr schlecht. Grund dafür sind die unregelmäßigen Regenfälle und der Einfall der Heuschrecken, die letztes Jahr in manchen Regionen die gesamte Ernte vernichtet haben. Die Hirsespeicher sind nun leer. Der 100-Kilo-Sack Hirse kostete letztes Jahr um diese Zeit 17.000 CFA-Franc, in diesem Jahr sind es bereits 22.000 CFA-Franc (37 Euro). Bei einer zehnköpfigen Familie, das ist die durchschnittliche Familiengröße in Niger, reicht das zwei Wochen. Doch das durchschnittliche Familieneinkommen liegt gerade mal bei 30.000 CFA-Franc.

Auch die Weidesituation ist sehr angespannt. Im Süden und Osten des Landes gibt es praktisch keinen Grashalm mehr für die Rinder und Schafe. „Die Kühe haben bereits im Februar angefangen, Sand zu fressen“, berichtet Aissa, eine Viehzüchterin aus Dakoro im Südosten des Landes.

Die Peul-Nomaden treiben nun ihre Rinderherden nach Westen an die malische Grenze – dort ist die einzige Region, in der es ausreichend Weide gab. Mittlerweile ist auch diese Gegend überweidet. In anderen Ausweichzonen, in denen die Viehzüchter in schlechten Jahren Weidereserven fanden, finden sie heute nur noch abgeschnittene Halme. Die dortige Bevölkerung schneidet das lange Gras ab und verkauft es auf dem Markt zu Wucherpreisen. Für einen Arm voll Gras zahlt man in Tahoua im Norden Nigers mittlerweile 3.000 CFA, das sind 5 Euro. Das ist für die Ackerbauern aber eine Überlebensstrategie, denn auch sie haben nichts mehr.

„Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich machen soll“, sagt Bouga, ein Viehzüchter, der seine zwanzig Rinder bei Tahoua weidet. Rund um das Viehlager steht nicht ein Grashalm, nicht ein Hirsehalm, die Kühe wühlen im Sand. Die Kälber brüllen vor Hunger, die Menschen sind sehr still geworden. „Letzte Woche war mein Sohn aus der Stadt da“, erzählt der alte Mann. „Er hat uns etwas Futter für die Tiere und einen Sack Reis gekauft.“

Das wird die Familie einen Monat lang über Wasser halten. Habibou, sein anderer Sohn, packt gerade seine Sachen, um in die Hauptstadt zu fahren. Zwei andere Söhne sind mit ihren Familien bereits in Nigeria. Dort arbeiten sie als Wächter.

Die meisten Umweltflüchtlinge Nigers finden sich in der Hauptstadt wieder. Ohne Verwandte bleibt ihnen dort nur die Straße. Mitten im Villenviertel von Niamey sitzt eine junge Peul-Frau auf einer Matte auf der Straße – seit Wochen. Mal bringen die Nachbarn ihr und ihrem Kind Essensreste, manchmal flechtet sie den Frauen für ein Taschengeld die Zöpfe, und an manchen Tagen gibt es gar nichts zu essen. „Aber betteln werde ich nicht“, sagt die junge Frau. Das sei gegen ihre Ehre.

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