Der Brillant der Aristokratin

Ulrike Ottingers Film „Zwölf Stühle“ im Metropolis zeigt abblätternde postsowjetische Realitäten

von Tim Gallwitz

Einen interplanetaren Schachkongress, ein Treffen der Großmeister gaukelt Schlitzohr Ostap Bender den Mitgliedern des Schachclubs von Wassjuki vor. Die Bewohner des Fleckens lauschen mit offenen Ohren und Mündern. Marmortreppen, eine Bahnlinie nach Moskau, Hotels, Wolkenkratzer, ja sogar reguläre Aero-Verbindungen mit allen Weltteilen: Bender malt die Zukunft in prächtigen Farben, und der Schachclub lässt die zwanzig Rubel der Vereinskasse für die notwendigen Telegramme springen. Knapp der Prügel der Betrogenen entronnen, reicht die Summe dem angeblichen Großmeister und seinem Reisegefährten Ippolit Worobjaninow zum Fortkommen, zur finalen Jagd auf den letzten der zwölf Stühle.

Zwölf Stühle, der 1928 erschienene Roman von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, ist ein literarisches Feuerwerk, einfallsreich gespickt mit Witz, Clownerie und Satire. Die Zeit der NEP, der neuen ökonomischen Politik, die in der Sowjetunion wieder etwas wirtschaftliche Eigeninitiative erlaubte, bildet den Hintergrund der Geschichte um die Geldgier überkommener Charaktere.

In einem von zwölf Stühlen befindet sich ein Brillantenschatz, den eine Aristokratin bei Ausbruch der Revolution dort versteckte. Auf dem Sterbebett vertraute sie ihr Geheimnis Schwiegersohn Worobjaninow an. Der machte sich flugs auf die Suche, ebenso wie der Sidekick Pope Fjodor, der der Verstorbenen kurz zuvor die Beichte abnahm. Worobjaninow trifft alsbald auf den „großen Kombinator“ Ostap Bender, einen Nichtsnutz von durchtriebener Cleverness, der zunächst als sein Gesellschafter, später als sein Boss tatsächlich einen Stuhl nach dem andern auftreibt.

2001 reiste Regisseurin Ulrike Ottinger für ihren Film Südostpassage von Berlin durch Südosteuropa am Schwarzen Meer entlang nach Istanbul. Unterwegs las sie Zwölf Stühle, und die Idee einer Verfilmung war geboren. Es ist mindestens die fünfte Adaption, nach zwei sowjetischen, einer kubanischen und der von Mel Brooks. In und um Odessa fand Ottinger bezaubernd-bizarre Schauplätze und auch ihr Ensemble. Georgi Delijew (Ostap Bender) nervt anfangs mit Selbstverliebtheit und trägt später fast den ganzen Film. Delijew ist Besitzer eines Theaters, das die Kunst der Burleske pflegt, und Star der bekannten TV-Comedy Maski. Die aristokratische Gespreiztheit und Lebensferne des Worobjaninow bringt Genadi Skarga, Spross einer Odessiter Theaterdynastie, auf den Punkt.

Das Gros der weiteren Darsteller sind Laien. Der quicke Delijew, die spröde Schönheit postsowjetischer Dörfer und Städte, die groteske Komik und der hintergründige Witz ziehen erst allmählich in den Bann. Hat man sich aber eingesehen – der Fund des ersten Stuhls lässt fast eine Stunde auf sich warten – sind die dreieinviertel Stunden gerade lang genug. Die Tableaus der Ottinger, neben Regie und Buch auch an der Kamera, weisen sie als vortreffliche Fotografin aus. In ihren sorgsam arrangierten, fast statischen Bildausschnitten bewegen sich die kostümierten Protagonisten in der abblätternden Realität der Jetztzeit. Der revolutionäre Schwung der Endzwanziger erfährt so seine unerbittliche Historisierung. Das Heute kommentiert das Präsens der erzählten Geschichte als schnöde-schöne Vergangenheit, kühne Vision entpuppt sich als abgehalfterter Entwurf. Und so ist zum Schluss der Schatz der Aristokratie im letzten Stuhl bereits sozialisiert. War ein Schmuckkästchen geworden, ein Clubhaus der Eisenbahner, und ist heute nur mehr ein baufälliges Relikt sozialistischer Vergangenheit.

Fr, 25.3., 19 Uhr, Metropolis. Regisseurin Ulrike Ottinger ist anwesend.