Unterwegs in Germania

Steinerne Spuren der Nazidiktatur finden sich überall in Deutschland. Während viele Orte der Repression zu Stätten des organisierten Gedenkens geworden sind, vermitteln die „Täterorte“ oft einen mehr oder weniger schuldbewusst genossenen touristischen Grusel. Wie umgehen mit den „Bösen Orten“ zwischen Prora und dem Obersalzberg?

VON HILMAR SCHMUNDT und STEPHAN POROMBKA

Hitlers monumental geplante Hauptstadt „Germania“ ist auf einen schäbigen Betonklotz zusammengeschmolzen. Mit über zwölftausend Tonnen lastet die Restmasse des Traums vom „Tausendjährigen Reich“ auf einem einzigen Fleck. Unten an der Böschung fährt die S-Bahn in Richtung Potsdamer Platz vorbei, links hat man ein doppelstöckiges Parkhaus gebaut, daneben befinden sich ein Wohnblock und ein Kleingärtnerverein. Hinter den Komposthaufen ragt, vom Gestrüpp halb verdeckt, das rätselhafte Totem vier Stockwerke in die Höhe: der so genannte Großbelastungskörper.

Der Koloss wirkt umso schwerer, je näher man kommt. Neunzehn Zentimeter ist er in den letzten sechzig Jahren eingesunken. Wissenschaftler der Technischen Universität Berlin haben bis vor kurzem das Experiment weiter beobachtet, das Albert Speer, der Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt, begonnen hat. Die Frage war, ob der märkische Sand die Traglasten halten kann, die sich Hitler und Speer für „Germania“ hochgerechnet hatten. Für den gigantischen Triumphbogen, der fünfzig mal mehr Raum einnehmen sollte als der Arc de Triomphe in Paris. Oder für die Große Halle, die für hundertachtzigtausend Menschen geplant war.

Das Ergebnis nach mehr als sechzig Jahren: Das Testobjekt für „Germania“ steht immer noch. Wenn der Betonklotz seine Sinkgeschwindigkeit beibehält, wird der oberste Rand den Erdboden erst in über viertausend Jahren berühren. Bis dahin bleibt viel Zeit zum Erinnern. An die Großträume von der Welthauptstadt. An den Großbelastungstest, der sechzig Millionen Menschen erdrückt hat. Und nicht zuletzt an die französischen Kriegsgefangenen, die der oberste Architekt der Nazis, Albert Speer, zusammentreiben ließ, um den Koloss für „Germania“ zu errichten.

Aber hier erinnert nichts. Nicht mal ein Schild klärt über das eigenartige Bauwerk auf. Wer es trotzdem kennt, verdankt das dem Hörensagen, den verstreuten Fußnoten in Büchern und Mitteilungen und Mythen auf zum Teil skurrilen Internetseiten. Oder einem Faltblatt, das die Laubenpieper in ihrem Briefkasten gefunden haben. Einer von denen, die den Schlüssel haben, um hinter dem Zaun zum Betonklotz ihren Kompost abzuladen, hat davon vor allem eins behalten: „Das Ding da hat der Hitler gebaut. Mehr wissen wir auch nicht.“ Und mehr will auch niemand wissen. Der Koloss steht da wie ein Monument, von dem man zu hoffen scheint, dass es sich von selbst erdrückt. Zwölftausend Tonnen reine Belastung, die man nicht wegbekommt, die aber auch nicht berührt werden dürfen, weil niemand weiß, was man mit der Erinnerung anfangen soll.

Kein anderes Land der Welt verfügt über eine derartige Fülle zweifelhafter Denkmäler. Das architekturhistorische Standardwerk von Helmut Weihsmann zu den baulichen Hinterlassenschaften der Nazizeit umfasst mehr als tausend Seiten, eng bedruckt. Wer diese Orte der nationalsozialistischen Selbstdarstellung mit Filzstift auf einer Deutschlandkarte einzeichnet, erhält ein fast schwarzes Blatt. Wo immer man losfährt, wo immer man ankommt in Deutschland, in jeder Großstadt, in vielen Kleinstädten, in Dörfern, mitten im Wald – es lassen sich Spuren der Nazidiktatur finden.

Deutschland ist ein Freilichtmuseum, voll gestellt mit Ausstellungsstücken aus der Zeit des Terrors. Ein Museum ohne Eingang, ohne Ausweg. Wenn Christina Weiss als Kulturstaatsministerin Anfang März mit einer ersten kleinen Konferenz in der Bundeszentrale für politische Bildung begonnen hat, die Frage nach den NS-Gedenkstätten in Berlin zu thematisieren, dann stehen ihr damit gleich weitere und vor allem größere Diskussionen ins Haus. Denn ein Programm für Berlin reicht nicht aus. Vor allem bewegt sich die Diskussion um den Umgang mit den Erinnerungsorten so lange im luftleeren Raum, bis eine umfassende Bestandsaufnahme gewagt wird, die sich nicht nur auf Berlin beschränkt.

Mit einem solchen Erkundungs- und Kartografierungsprojekt müsste dringend begonnen werden. Denn die Gedenkstätten und die fast vergessenen Ruinen aus dem Dritten Reich ziehen immer noch und immer wieder ein großes Publikum an. Über eine halbe Million Besucher aus dem In- und Ausland wird allein am Obersalzberg bei Berchtesgaden gezählt, und das nicht erst, seit im ehemaligen „Führersperrgebiet“ ein Luxushotel eröffnet hat. In Peenemünde, wo Wernher von Braun einst die so genannten Vergeltungswaffen konstruierte, sind die Besucherzahlen vergleichbar. Einrichtungen wie das Dokumentationszentrum auf dem „Reichsparteitagsgelände“ in Nürnberg ziehen teils eine Viertelmillion Gäste pro Jahr an. Deutschlandweit dürfte sich der Tourismus zu Gedenkstätten und Mahnmalen, die sich mit der NS-Zeit beschäftigen, also auf jährlich weit über eine Million Besucher belaufen. In den Neunzigerjahren wurden mehr Dokumentationszentren eingerichtet als in allen Jahrzehnten zuvor. Die Topografien des Terrors sind heute ein Teil der Touristikbranche.

Unproblematisch ist das nicht. Selten wurde so heftig und erbittert wie heute über die Frage gestritten, wie man mit den Hinterlassenschaften der nationalsozialistischen Selbstdarstellung umgehen soll: In München tut man sich schwer mit der Einrichtung eines Dokumentationszentrums zur „Hauptstadt der Bewegung“. Der Hotelriegel Prora auf Rügen, einst als „Kraft durch Freude“-Bad geplant, wurde gerade an einen Investor verkauft. Die Diskussion um die zukünftige Nutzung hat das aber keineswegs entschärft. Im Gegenteil, jetzt geht das Machtspiel um Gedenkstätte und Eventbetrieb nur in die nächste Runde. Am Chiemsee herrscht Ratlosigkeit, wie man mit Deutschlands ältester Raststätte verfahren soll, wenn sich die US Army aus dem Bau zurückzieht, an dessen Wänden immer noch die Nazikunst von damals hängt. Der kleine Ort Alt Rehse in Mecklenburg-Vorpommern verzweifelt an der Frage, ob im Schlosspark an die Vergangenheit erinnert werden soll oder nicht: Im „Dritten Reich“ lernten hier Ärzte und „Braune Krankenschwestern“ auf Fortbildungsfreizeiten vor einer idyllischen Seekulisse, wie man Patienten ermordet, die als „lebensunwertes Leben“ eingestuft worden waren.

Vogelsang, Laboe, Olympisches Dorf Berlin, Carinhall, Goebbels-Villa am Bogensee. An all diesen und an an vielen anderen Orten wird mit wechselndem Erfolg um einen angemessenen Umgang mit der Vergangenheit gerungen – immer wieder geht es dabei um dieselben schwierigen Fragen, und doch wird an jedem Ort isoliert gestritten. Eine überregionale Vernetzung fehlt ganz.

Wo nicht gestritten wird, ist die Situation oft noch desolater: Im Oktober 2004 wurde zum Beispiel in der oberbayerischen Kleinstadt Bad Tölz mit viel Brimborium das Flint-Center eingeweiht, ein modernes Dienstleistungszentrum mit Sportstudios, Landratsamt, Banken und Polizeiwache, gekrönt vom „Forum der Generationen“ und dem „Generation Research Program“, dem Altern und der Kommunikation zwischen verschiedenen Generationen gewidmet. Fast völlig verschwiegen wurde dabei, dass die Vorgeschichte der Gebäude nicht mit der US-Kaserne „Flint Barracks“ begann, sondern dass Hitler hier die erste SS-Junkerschule eröffnete. In der so genannten Reichsführerschule Bad Tölz wurden auch Mitglieder der Totenkopf-SS indoktriniert, um sie auf die Verwaltung von Konzentrationslagern vorzubereiten. Nicht einmal eine Plakette erinnert an diese Vorgeschichte – ein erstaunliches Versäumnis für einen Ort, an dem der „Dialog der Generationen“ erforscht werden soll.

Viele historische Erinnerungsorte sind bedroht vom Vergessen, Verschweigen und Kaputtsparen. Oder sie ziehen Besucher an, die das Hitler-Regime klammheimlich beschönigen oder bewundern. Eine graue Tourismusindustrie verbreitet zugkräftige Legenden von Wunderwaffen, von fliegenden „Reichssuppenschüsseln“, von Atombomben in Bergstollen oder vom tugendhaften, bescheidenen „Führer“, der sich von seinem Freizeitheim aus väterlich um eine ehrenhafte Volksgemeinschaft Sorgen machte.

Seit den Sechzigerjahren hat sich in Deutschland ein dichtes Netz des Erinnerns an den Holocaust entwickelt. Im Mittelpunkt standen seit der Eröffnung der Gedenkstätte in Dachau 1965 die so genannten Opferorte, für die der jeweiligen Umgebung die Bereitschaft zur Erinnerung, zu Trauer, Scham und Mitleid häufig erst abgetrotzt werden musste. Wenn man überhaupt bereit war, die Schrecken der deutschen Vergangenheit zu akzeptieren und zu thematisieren, dann eingegrenzt an einigen wenigen Gedenkorten und fokussiert auf wenige Haupttäter. Die konkreten Spuren des Alltags unter dem NS-Regime wollte man vor der eigenen Haustür nicht hervorheben.

Der Zugang zu Täterorten ist noch komplexer, noch schillernder und damit noch schwieriger als das Gedenken an die Opfer. Die Villa des „Reichsführers SS“ für viel Geld zu renovieren oder eine idyllisch gelegene Ausbildungsstätte für Massenmörder mithilfe der Denkmalpflege zu erhalten erscheint vielen Kritikern zynisch.

So hat sich in Deutschland nur mit großer Zeitverzögerung und unter großen Schwierigkeiten eine spezifische eigene Gedenkkultur entwickeln können, die sich im Kern vom Gedenken anderer Länder und Völker an die Opfer des Nationalsozialismus unterscheidet: Erst 1988 wurden mit der „Topographie des Terrors“ und 1992 mit der Wannseevilla die ersten beiden prominenten Täterorte zu Gedenkstätten umfunktioniert. Denn Deutschland hat eben nicht nur die Opfer zu beklagen. Es ist auch das Land der Täter.

„Die Täterschaft und ihre Taten müssen in die Erinnerung einbezogen und nicht nur die Opfer als solche und allein erinnert werden“, stellt der Historiker Reinhart Koselleck fest. Negatives Gedächtnis, so lautet seine Formel für eine aufgeklärte Gedenkkultur, die sich nicht vor der Schuld der eigenen Vorfahren drückt. „Das zu formulieren ist schwierig und bereits verpasst worden in der gesamten Debatte um das Holocaust-Denkmal. Insofern ist der Fluch der Tat bis heute negativ sichtbar, als keine Lösung gefunden worden ist, keine Antwort darauf, wie die Nation der Täter sich selbst zu ihren Opfern stellt.“

Lösungen für dieses Problem sind schwierig. KZ-Gedenkstätten können zwar den Schrecken, nicht aber die Verführungskraft der Nazi-Ideologie erkennbar machen. Auch Autobahnen, Ferienheime, Ehrenmale, Seminarzentren und Sportstätten gehörten zum Gesamtsystem aus Konsum, Hightech und Terror. Davon erzählen heute noch die „Worte aus Stein“, wie die gebaute Propaganda im „Dritten Reich“ genannt wurde. Sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, sechzig Jahre nach der Befreiung der letzten Überlebenden in Auschwitz stellt sich damit die Aufgabe des Gedenkens nicht neu. Aber sie stellt sich in erweiterter Form. Nimmt man den Anspruch eines negativen Gedächtnisses ernst, müssen auch die Täterorte entdeckt werden, um sie aus der regionalen Isolation zu befreien.

Dass dadurch neue Konflikte entstehen und alte wiederbelebt werden, ist vielfach belegt. Doch zum Gedenken gehört eben auch, sich diese Konflikte nicht zu ersparen. Ein Gedenken ohne Konflikte, ohne Auseinandersetzungen und ohne konkurrierende Erzählungen mögen sich jene wünschen, die sich schon auf der sicheren Seite wähnen und die Vergangenheit abgehakt haben. Das negative Gedenken dagegen kennt diese sichere Seite nicht.

Damit wird aber die Vergangenheit keineswegs zu einem Fluch erklärt, der für immer auf einem ganzen Land lastet. Im Gegenteil. Die Spuren der nationalsozialistischen Herrschaft haben sich gerade deshalb in kulturelle Großbelastungskörper verwandelt, weil es lange Zeit vorgezogen wurde, das Systematische und Flächendeckende der NS-Herrschaft zu unterschlagen und die Geschichte lieber an wenigen markanten Punkten zu isolieren. Hebt man die Isolation auf, dürfte sich der Umgang mit diesen Orten verändern. Und damit auch der Blick auf die Geschichte.

Lebendiges Gedenken wird schwieriger, je weiter die Zeit des Nationalsozialismus zurückliegt. Bald sind die letzten Zeitzeugen stumm geworden, und es gibt nur noch die Bücher, Filme, Erzählungen, Legenden. Und eben steinerne Überreste. Eine der Möglichkeiten, etwas gegen das Vergessen zu tun, wird sein: das Gedenken nicht monumental abzuschließen mit einigen wenigen Monumenten in der Hauptstadt, sondern es fortwährend zu irritieren, um es in Bewegung zu halten. Auch an Orten der Täter wie etwa dem Großbelastungskörper in Berlin, der zwar langsam, unendlich langsam weiter im Boden versinkt, aber noch lange nicht verschwunden ist.

HILMAR SCHMUNDT, geboren 1966, ist Redakteur beim „Spiegel“ und lebt in Berlin. Sein Buch „Hightechmärchen“ (Argon Verlag, 256 Seiten, 18,90 Euro) wurde 2003 von „Bild der Wissenschaft“ als Buch des Jahres ausgezeichnet. Am 29. März erscheint das von Hilmar Schmundt und Stephan Porombka herausgegebene Buch „Böse Orte. Stätten nationalsozialistischer Selbstdarstellung – heute“ (Claassen Verlag, 220 Seiten, 19,90 Euro). Während der Recherchen für „Böse Orte“, aus dem wir eine überarbeitete Fassung des Vorworts drucken, wurde Hilmar Schmundt hin und wieder auf General Rudolf Schmundt angesprochen, der als Generaladjutant der Wehrmacht zu Hitlers engster Entourage gehörte und beim Attentat am 20. Juli tödlich verletzt wurde. Hilmar Schmundt kennt diesen Großonkel allerdings fast ausschließlich aus Geschichtsbüchern