Gemeinsam die EU schlagen

AUS OLSZTYN/ALLENSTEIN GABRIELE LESSER

„Kuba!“, ruft eine Frau im karierten Wintermantel. „Kuuuba!“ Doch der kräftige Dobermann springt in weiten Sätzen einer Dackeldame hinterher. An einem Baum hebt er schließlich sein Bein. „Kuuba!“ Der kleine Park mit den alten Linden ist ein Hundeparadies. Doch Paulina Zukowska ist entrüstet: „Das hier ist der jüdische Friedhof, kein Hundeklo!“, schimpft sie lautstark. Die 29-Jährige schließt das Mendelsohn-Haus an der „Zyndram von Maszkowice-Straße“ in Olsztyn auf, der früheren Seestraße im ostpreußischen Allenstein. „Als Erstes müssen wir den Friedhof und das Haus umzäunen.“

Zukowska ist Denkmalpflegerin. Das Haus, das erste Bauwerk des später berühmt gewordenen Architekten Erich Mendelsohn, liegt ihr besonders am Herzen. „Wenn hier erst ein lebendiges Kulturzentrum entsteht, wird sich auch dieses Armenviertel ringsum ändern“, ist sie überzeugt. „Die Leute werden sehen, dass sie etwas tun können, wenn sie nur wollen.“ Seit kurzem arbeitet die schwarzhaarige junge Frau auch für die polnische Kulturgemeinschaft „Borussia“. Sie ist das Bindeglied zwischen Stadtverwaltung und der Nichtregierungsorganisation. Ihr offizieller Titel lautet: „Koordinatorin des EU-Projekts Mendelsohn-Haus in Allenstein“.

„Das Haus und der Friedhof sind die einzigen Spuren jüdischen Lebens, die uns verblieben sind“, erklärt sie. „Wenn wir sie jetzt mit diesem EU-Projekt nicht retten, wird es bald nicht einmal mehr eine Erinnerung an die Allensteiner Juden geben.“ Seit knapp zehn Jahren steht die ehemalige jüdische Leichenhalle leer. Einst wurden hier die Toten rituell gewaschen und für das Begräbnis vorbereitet. Noch immer sind ein Teil des früheren Wanddekors und auf dem Steinfußboden ein großer Davidstern zu sehen. Doch es riecht feucht und muffig. Pilze haben die Wände befallen.

Nach 1945 kehrte keiner der Allensteiner Juden zurück in die nun polnische Stadt. Das kleine Bethaus und die alte Synagoge hatten noch die Nazis zerstört. Den jüdischen Friedhof ließ Polens kommunistische Regierung Ende der 60er-Jahre einebnen. Unter dem Rasen aber liegen noch immer die Toten.

Der Gründer der Kulturgemeinschaft Borussia, die jetzt mit Hilfe von EU-Geldern im Mendelsohn-Haus ein Kulturzentrum einrichten will, heißt Roman Traba und ist Historiker. Vor Jahren ist der 47-Jährige aus Allenstein nach Warschau gezogen. Doch noch immer zieht es ihn zurück nach Ermland und Masuren. „So kann das nicht bleiben!“, meint er und zieht ein paar vergilbte Fotos aus der Tasche. „Die jüdische Leichenhalle ist das einzige Zeugnis des architektonischen Werks von Erich Mendelsohn hier in Alleinstein.“ Das Haus soll so renoviert werden, dass Ausstellungen und Seminare stattfinden können, die einstige Bestimmung als jüdische Leichenhalle aber erkennbar bleibt.

Das Mendelsohn-Haus ist das bislang größte und teuerste Projekt der Nichtregierungsorganisation, deren 140 Mitglieder sich mit dem kulturellen und ethnischen Wandel in Ermland und Masuren seit 1945 beschäftigt. Allein die Restaurierung von Friedhof und Beit Tahara, der Leichenhalle, werden rund 400.000 Euro verschlingen. Die kleine Spezialbibliothek zu den ostpreußischen Juden und zu Leben und Werk Mendelsohns schätzt Traba auf rund 60.000 Euro. Und das groß angelegte Bildungsprogramm „Neues Leben unter alten Dächern“ mit Vorträgen, Ausstellungen, Seminaren und Publikationen werde Startkosten von rund 75.000 Euro verursachen. Ziemliche Summen, wenn man bedenkt, dass das Durchschnittseinkommen eines Polen bei gerade mal 500 Euro liegt.

Im Finanzzentrum der Borussia

„Alleine können wir das nicht stemmen“, ist sich Traba sicher. „Wir verhandeln zurzeit mit der Stadt Olsztyn, aber auch mit dem polnischen Kultusministerium und einigen Stiftungen. Ohne Partner, die das Projekt unterstützen, werden wir auch kein Geld von der EU bekommen.“

An den Klingelknöpfen des winzigen Hauses an der „Straße der Befreiung“ 2 steht „Borussia“ und direkt darunter „Ukrainische Minderheit“. Im zweiten Stock arbeiten sechs junge „Borussen“, wie sie sich selbst nennen. Kornelia Kurowska (34), die seit der Gründung der Kulturgemeinschaft vor 15 Jahren dabei ist, erläutert auf einem kleinen Rundgang, wer wer ist: Im ersten Zimmer telefoniert eine junge Frau gerade auf Russisch. „Ewa kümmert sich um den Jugendaustausch und die Zusammenarbeit mit Kaliningrad und Litauen. Eine polnisch-amerikanischen Stiftung finanziert dieses Projekt.“ Nebenan flimmern mehrere Computer. „Das ist unser Verlags- und Finanzzentrum“, ulkt Kornelia angesichts der eher bescheidenen Größe des Zimmers. „Maria ist für alle EU-Gelder zuständig, die öffentlichen Zuschüsse und Stipendien. Das sind hunderttausende von Euros jährlich. Kamila betreut einige Buchreihen und unsere Zeitschrift Borussia. Ich selbst kümmere mich um den internationalen Freiwilligendienst.“

Die Aktenordner in den Schränken mit Aufschriften wie „Phare“ oder „Sokrates“ zeugen von einer engen Zusammenarbeit mit Brüssel, denn beides sind Namen von EU-Förderprogrammen. Auf zwei neuen Ordnern steht: „Mendelsohn-Haus“ und „EU Strukturfonds Regionalentwicklung“. Die Denkmalschützerin Paulina Zukowska ist erst vor kurzem Borussin geworden. „Das ist einfach imponierend, was so eine kleine Organisation auf die Beine stellen kann. Obwohl es immer wieder heißt, das mit den Fördertöpfen in Brüssel sei so kompliziert, bekommt Borussia fast alle Förderanträge bei der EU durch. Da können wir von der Verwaltung noch viel lernen.“

Dennoch sei ein so großes Projekt wie das Mendelsohn-Haus samt Friedhof natürlich eine ganz andere Herausforderung. Ohne technische und finanzielle Unterstützung bei den zahlreichen Bau-, Denkmalschutz-, Grundwasser- und Hygiene-Expertisen könnte Borussia das Projekt nicht schultern. „In dem Bereich haben natürlich wir von der Stadtverwaltung die größere Erfahrung und können helfen.“

Zukowska gefällt ihre Rolle als Koordinatorin gut. „Ohne die Zusammenarbeit von Stadt und NGO würde gar nichts gehen.“ Sie stellt den Ordner zurück in den Schrank und lacht: „Gemeinsam sind wir stark! Das ist es wohl, was die EU will: Wir sollen uns zusammentun, Behörden und Bürger, und die EU mit Vorschriften gemeinsam schlagen! Dafür gibt’s dann auch als Belohnung 75 Prozent Zuschuss.“

Nur ein paar Schritte vom Borussia-Sitz entfernt steht das imposante Rathaus Allensteins. Im vierten Stock, direkt unter dem Dach, hat Wlodzimierz Winciun sein Büro. Der Mittfünfziger ist Beauftragter des Bürgermeisters für die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen. „Für uns Beamte ist das etwas völlig Neues“, erklärt er und schaut versonnen aus dem Fenster. „Mit NGOs zusammenzuarbeiten, die in einem EU-Projekt gleichberechtigte Partner sind! Daran müssen wir uns erst einmal gewöhnen!“ Er wiegt den Kopf hin und her, noch immer ein bisschen ungläubig.

Gleichberechtigte Partner?

Denn es sieht alles danach aus, als würden die Stadt Allenstein und die Kulturgemeinschaft Borussia tatsächlich einen gemeinsamen Förderantrag in Brüssel stellen. Um nämlich einen Zuschuss von 75 Prozent aus dem EU-Strukturfonds für Regionalentwicklung zu bekommen, muss die Investitionssumme mindestens eine Million Euro betragen. „Wir haben Borussia ja schon die Expertisen des Denkmalschutzamtes bezahlt. Ohne die könnte die NGO gar keinen Antrag auf Fördermittel der EU stellen“, so Winciun.

Die Stadt müsste sogar noch einen Schritt weitergehen. Um das Projekt „Mendelsohn-Haus“ genehmigt zu bekommen, muss Borussia die restlichen 25 Prozent der Finanzierung selbst aufbringen. Und das sind immerhin 250.000 Euro. „Ob wir diese Summe übernehmen, das ist zweifelhaft“, sagt der Beamte. Als wollte er sich selbst überzeugen, setzt er jedoch hinzu: „Andererseits liegt es ja im ureigensten Interesse der Stadt, dass das Mendelsohn-Haus wieder hergerichtet und auch der Friedhof instand gesetzt werden.“

„Es ist nie gut, nur auf ein Pferd zu setzen“, meint Borussia-Gründer Robert Traba. „Wir könnten für die 25 Prozent Eigenanteil sicher einen weiteren Partner finden. Das Problem ist jedoch, dass das Projekt ausgeweitet werden muss, um auf die von der EU geforderte Investitionssumme von einer Million Euro zu kommen. Das schaffen wir ohne zusätzliche Projekte der Stadt nicht.“ Und tatsächlich denkt man im Rathaus daran, auch die Restaurierung einer alten Wehranlage und eines Astronomenturms aus der Kreuzritterzeit von der EU finanzieren zu lassen.

In einer Pause zwischen zwei Vorlesungen studiert der Historiker die Förderrichtlinien der „norwegischen Kombination“. Die mit der EU eng assoziierten Efta-Staaten Norwegen, Schweden, Island und Liechtenstein haben im Gegenzug für die Teilnahme am EU-Binnenmarkt ein eigenes Förderprogramm für EU-Länder aufgelegt. Für NGOs sind diese Mittel attraktiver als die Strukturhilfen der EU, da die Mindestinvestitionssumme bei nur 250.000 Euro liegt. Zudem würde ein Eigenanteil von 15 Prozent ausreichen, wenn sie von einem Ministerium oder einer Kommune übernommen würden. „Wir werden in jedem Fall versuchen, das Mendelsohn-Haus mit Hilfe der Stadt zu finanzieren“, meint Traba. „Aber wenn das nicht klappt, dann ist vielleicht die ‚norwegische Kombination‘ unsere Chance.“