Der Nicht-Anschlussfähige

Erkundungen für die Präzisierung der Gefühle rund um einen Aufstand (5): Ach, Gewaltvorwurf! Wogegen man Rudi Dutschke wirklich verteidigen muss, das ist die repressive Ironie der Nach-68er. Er bleibt ein Stachel im Bewusstsein derjenigen, die ihren Frieden mit der Bundesrepublik gemacht haben

■ Muss, wer Rudi Dutschke sagt, auch Gewalt sagen? Um diese Frage ist eine Debatte entbrannt, die auch ein aktuelles politisches und gesellschaftliches Selbst-verständnis betrifft: Wie viel Abgrenzung von 68 muss, wie viel Anlehnung soll sein? Eine Essayreihe über den langen Marsch durch die Deutungen einer Revolte

VON STEPHAN SCHLAK

„Aber eins war der Rudi übrigens nicht, er war nie Ironiker.“ Über Rudis mentale Lücke, auf die Christian Semler in der taz hinwies, stolpern wir nur, weil der Studentenführer momentan für etwas kanonisch Ironisches in Anspruch genommen wird – die alte Bundesrepublik. Ihre linksliberale Führungsklasse konnte es sich leisten, in den späten Achtzigern all ihre alten politischen Überzeugungen aufzugeben und zu verraten – ohne darüber unfroh oder gar tragisch zu werden. Das war eine gewaltige biografische Entfremdungsleistung. Ironie indiziert seitdem die große spätbundesrepublikanische Selbstversöhnung. Wenn Dutschke heute für diesen versöhnlichen Geist der alten Republik in Beschlag genommen und in Berlin-Kreuzberg aufs Straßenschild gehoben werden soll, dann ist das aber wohl nicht ironisch, sondern leidlich ernst gemeint. So viel ernste Ironie muss provozieren. Rudi Dutschke war – wie alle Genossen wissen, die mit ihm einmal einem beliebig-leichten Vergnügen nachgingen – ein großer ideologischer Spaßverderber. Und so kann es hier nicht ausbleiben, dass in seinem Geist die alte Straßenverkehrsordnung verteidigt wird.

„Anschlussfähigkeit“ ist das Codewort der neuen, mit sich und der Republik versöhnten Intelligenz. Sie markiert das einzige Projekt, das für die Linke nach dem Schiffbruch ihrer Ideologien erfolgreich verlaufen ist – den Anschluss an die alte Bundesrepublik. Die alten Suhrkamp-Ikonen Hans Magnus Enzensberger und Jürgen Habermas, die sich von ihrem harmlosen Generationsbruder Helmut Kohl in den Achtzigern über das zivile „Mittelmaß“ der Bundesrepublik aufklären ließen, gingen hier voran – und mit einigem Abstand folgten ihnen die linksliberalen Fußtruppen. Heute lässt der 68er-Linke sich an spätbundesrepublikanischer Begeisterung von niemandem überbieten. „Das gelobte Land“ – überschrieb vor ein paar Jahren das Kursbuch, das Zentralorgan der 68er, seine Jubelnummer.

Längst ist die Linke der wahre Hüter der Bundesrepublik. Und keiner wacht so über die Anschlussfähigkeit wie das Hamburger Institut für Sozialforschung. Denn für alle reicht es dann doch nicht. Wer aufrechte Sympathien für den „revolutionären Kampf“ entwickelte, wie Rudi Dutschke, der hat in der guten bundesrepublikanischen Stube nichts verloren und wird aus ihrer Erfolgsgeschichte ausgeschlossen. Dabei ist der militante Vorwurf ja nun wahrlich nicht neu.

Drei Monate vor dem „Organisationsreferat“, das Dutschke mit dem unvergessenen Adorno-Meisterschüler Hans Jürgen Krahl unter der Vietkongfahne vor dem Frankfurter SDS gehalten hat und aus dem jetzt wieder so erschrocken zitiert wird, hat Jürgen Habermas doch alles schon gesagt. „Linker Faschismus“ – so der bekannte Vorwurf des philosophischen Skeptikers an Dutschke, der nach Benno Ohnesorgs Tod die Studenten zu außerlegalen Aktionen aufpeitschen wollte. Heute lobt Jan Philipp Reemtsma, in seiner Laudatio auf den Friedenspreisträger in der Frankfurter Paulskirche, den altbundesrepublikanischen Paradeintellektuellen Jürgen Habermas für seine vorbildliche „Anschlussfähigkeit“ – und ein paar Institutsstufen weiter unten wird Rudi Dutschke in Hamburg der Prozess gemacht. Man braucht hier gar nicht, wie Robert Misik vorletzte Woche, das aktuelle Hamburger „Abrechnungskommando“ und seine feuilletonistischen Sympathisanten groß zu dämonisieren. Was schon genug gruseln lässt, ist die zombieartige Wiederkehr der Debatte. 1972 hat Oskar Negt in seiner „Abgrenzungsrede“ die linke Unschuld vor der RAF zu retten versucht. Aber auch 30 Jahre später ist der linke Säuberungswille noch nicht befriedigt. Scheinbar muss die Linke sich heute von Rudi distanzieren, um ihre BRD-Anschlussfähigkeit nicht aufs Spiel zu setzen.

Gegen die ewige linke Selbstzerfleischung hat Karl Heinz Bohrer 2001 in der Zeit fulminant angeschrieben. In Joschka Fischers Putzdebatte geißelte er das „hanebüchen naive Herumfuchteln“ der konservativen Unions-Jungspunde „mit der Gewaltmetapher“, aber genauso den Sündenstolz der Alt-68er – den „Kotau“ vor der „herrschenden Bankangestelltenmentalität“. Gegen den pazifistischen Konsens rühmte er die „bellikosen Qualitäten“ der Revolte. Bohrer stellte den situationistischen Zusammenhang der Studentenrevolte mit der RAF wieder her. Und sogar seine „klammheimlichen Gefühle“ ließ er nicht unerwähnt: Ulrike Meinhofs Verhaftung nahm Bohrer, der um 1968 das Feuilleton der FAZ durchlüftete, damals durchaus „nicht mit Freude zur Kenntnis“.

Bei dem verdrucksten Umgang der 68er mit ihrem Erbe las man Bohrers Vorwärtsverteidigung gerne. Jedenfalls bekam man bei ihm ein Gespür dafür, was für ein phänomenales Ereignis 1968 wohl einmal war: der existenzielle Sprung aus der bundesrepublikanischen Hölle. Bohrer schrieb seinen kämpferischen Artikel im unschuldigen Frühjahr 2001, wenige Wochen später kehrte der Terror zurück. Und mit den großen ernsten weltanschaulichen Fragen auch für einen kleinen Moment die Hoffnung, dass nun wenigstens die öffentlich zelebrierte Selbsttherapie der 68er an ihr Ende gekommen sei. Aber die Hoffnung trog. 1968 bleibt, wie die Posse um die Umbenennung der Kochstraße demonstriert, Vergangenheit, die nicht vergehen will.

Fraglos sind die 68er hierzulande an der Macht, auch wenn die „Fantasie“ beim Marsch an die Staatsspitze auf der Strecke geblieben ist. Oder so richtig nur noch in virtuosen Privatbeziehungen – „Ich bin ein hemmungsloser Romantiker“ (Joschka Fischer) – und in witzigen taz-Überschriften zum Ausdruck kommt. Wie unromantisch war dagegen Dutschke, bei dem noch jeder Beischlaf, wie seine Tagebücher („Jeder hat sein Leben ganz zu leben“) enthüllten, erst beim theoretischen Nachgespräch zu seinem Höhepunkt kam. Dutschke erinnert daran, dass die Linke auch einmal eine unromantische Seite hatte.

Dagegen haben die 68er sich mit der Zeit immer mehr auf die ironische, romantische Linie geschlagen. Theoretisch konkret gesprochen: Sie haben erst den Frieden mit dem System und dann mit der Theorie des Systems gemacht. In Hundertschaften sind sie in den Achtzigern zu Niklas Luhmanns Systemtheorie übergelaufen, wo ihr Zauberwort der „Anschlussfähigkeit“ ja auch die eigentlich wahre theoretische Heimstätte hat.

Dabei hat Luhmann mit den 68ern nie viel anfangen können. 20 Jahre nach der Revolte reduzierte der Meister in dieser Zeitung die Revolte. „Zufällige Vorfälle, der Schuss auf Benno Ohnesorg zum Beispiel, schossen die Studenten aus der Gesellschaft hinaus – und von da ab konnte man über den Rasen laufen.“ Aber weil so viel Kontingenz natürlich biografisch wenig hergibt, hat der bekehrte 68er sich eine ganz eigene Systemtheorie zusammengebastelt. Vor allem mit Luhmanns Supercodes „Gut/Böse“ und „Inklusion/Exklusion“ ließ sich unter Wegfall aller anderen Theorieunterscheidungen vorzüglich die altlinken Abgrenzungsrituale – Wer gehört dazu? – und Diskriminierungen weitertreiben.

Dass 68 nicht in der Theorie eines Bielefelder Verwaltungsjuristen aufgeht, dass die rebellischen Jahre sich nicht einfach zivilisatorisch mit der satten Bundesrepublik verrechnen lassen – das ist das einzige Versprechen der Revolte, das sich noch nicht restlos verbraucht hat. Und so vertrauen wir einfach darauf, dass Rudi auch von der repressiven Ironie der taz nicht liberal integriert werden kann. Was an Dutschke heute fasziniert, ist nicht das bundesrepublikanisch Anschlussfähige, sondern das Unzeitgemäße, das angestrengt Ideologische – der rebellische Charme des Authentischen.

Stephan Schlak lebt in Berlin und arbeitet an seiner Dissertation in Geschichte. – Die Dutschke-Debatte wird kommende Woche fortgesetzt