Ein Student in Stadelheim

AUS MÜNCHEN JÖRG SCHALLENBERG

Als Konstantin Gvasalia im November 1998 aus Georgien nach Deutschland kam, um hier zu studieren, da hätte sich der damals 34-Jährige manchen Ort vorstellen können, an dem er an diesem Tag im Frühling 2005 sein würde: Möglicherweise in einem Hörsaal der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Oder im Sprechzimmer seine Professors. Oder, im besten Falle, schon wieder daheim in Tiflis, aber mit wesentlich besseren Berufsaussichten, denn ein Universitätsabschluss im Westen zählt dort nun mal mehr als die einheimischen Diplome in Geschichte und Kinodramaturgie, die Gvasalia 1998 bereits hatte.

Ganz sicher aber ist in seiner Fantasie nie dieser triste, beige getünchte Raum mit der halbhohen Milchglasscheibe aufgetaucht, in den Gvasalia gerade von einem Justizvollzugsbeamten des Freistaats Bayern geführt worden ist. Er trägt blaue, abgenutzte Anstaltskleidung, seine Haare sind kurz geschoren und an den Seiten grau, die Wangen eingefallen. Als er Maka D., eine Freundin, auf der anderen Seite der Scheibe erblickt, bestürmt er sie ohne jeden Gruß sofort mit Fragen: Hat sie die Presse informiert? Was ist mit dem Anwalt? Was sagt die Universität? Geht politisch etwas? Rasend schnell stößt er die Fragen hervor. Er verliert keine Sekunde. Zeit ist kostbar, wenn man nur zweimal im Monat für 30 Minuten Besuch empfangen darf und sich dabei noch im Stimmengewirr der beiden anderen Insassen und ihrer Besucher durchsetzen muss, die hier dicht gedrängt nebeneinander kauern, im Sprechzimmer 26 des Gefängnisses München-Stadelheim.

Seit dem 13. Februar sitzt Konstantin Gvasalia schon in Abschiebehaft, aber er wirkt immer noch fassungslos darüber. Wenn er vom Gefängnis erzählt und davon, wie er hierher kam, schildert er es mit Ungläubigkeit. Dass ihm das passieren konnte, ausgerechnet „hier in Deutschland“, wo er sich so sicher war, dass Recht und Gesetz etwas gelten. Doch Paragrafen sind interpretierbar, und im Falle des georgischen Studenten wurden sie, wie der Blick in die Akten zeigt, konsequent gegen ihn ausgelegt.

Befristete Bewilligung

Mit Beschluss vom 3. August 2004 hat das Verwaltungsgericht in München eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung für Gvasalia abgelehnt – im Wesentlichen, weil er unzulässigerweise sein Studienfach gewechselt habe. Dass er damit sein Studium aller Voraussicht nach früher als geplant beendet hätte, interessierte bei Gericht nicht. Um das zu verstehen, muss man Gvasalias Geschichte in Deutschland von Beginn an erzählen.

Im November 1998 kommt er nach München. In seiner Heimat sieht Konstantin Gvasalia keine Zukunft mehr, Deutschland begreift er als letzte Chance, nicht in akademischer Armut leben zu müssen. „Meine berufliche Karriere war aussichtslos“, schreibt er in einem Brief an die Richter, „da wegen der wirtschaftlichen Lage Georgiens selbst Professoren nur zwischen 50 und 70 Euro im Monat verdienten.“ Er erhält eine befristete Aufenthaltsbewilligung, um an studienvorbereitenden Sprachkursen teilzunehmen. Sein Ziel ist es, in München Orthodoxe Theologie zu studieren.

Allerdings erweist sich die deutsche Sprache schwieriger als erwartet. Erst im August 2000 besteht Gvasalia die obligatorische Sprachprüfung für ausländische Studienbewerber, lernt aber, wie er selbst sagt, noch ein weiteres Semester Deutsch, um an der Uni mitzukommen. Doch zum Wintersemester 2000 hat sich Gvasalia bereits für die Orthodoxe Theologie immatrikuliert, was ihm später zum Verhängnis wird.

Denn neben dem Studium, das ihm inhaltlich wenig behagt und in dem er keinen einzigen Schein erwirbt, arbeitet der Georgier für Zeitungen in seiner Heimat. Schließlich stellt ihm das angesehene Blatt 24 Saati eine wohl dotierte Stelle in Aussicht, allerdings unter der Voraussetzung, sich im Studium mehr mit Deutschland und dessen Geschichte zu beschäftigen.

Folglich wechselt Gvasalia zum Wintersemester 2002 das Studienfach und schreibt sich für Geschichte und Literaturwissenschaften ein. Das Auslandsamt der Ludwig-Maximilians-Universität genehmigt den Wechsel und rechnet zudem den akademischen Abschluss in Georgien an, sodass Gvasalia in seinem neuen Fach mit dem Hauptstudium beginnen kann – in dem er, nun Feuer und Flamme, sogleich den ersten Schein macht.

Doch als er im November 2003 seine stets auf ein Jahr begrenzte Aufenthaltsbewilligung beim Landratsamt Erding – in dessen Zuständigkeit er seine Adresse verlegt hat – verlängern will, erlebt er eine böse Überraschung. Die Behörde verweigert ihre Zustimmung, weil der Fachwechsel unzulässig sei. In der folgenden Auseinandersetzung, die schließlich vor dem Verwaltungsgericht endet, spielen diverse Aspekte der Ausländergesetzgebung eine Rolle. Letztlich aber spricht gegen Gvasalia, dass er als Nicht-EU-Bürger nach dem Ausländerrecht das Studienfach nur in den ersten 18 Monaten nach Studienbeginn hätte wechseln dürfen.

Verblüffenderweise zählt der Umstand, dass der Georgier durch den Wechsel wohl kürzer als geplant zu Studienzwecken im schönen Deutschland verweilen würde, vor Gericht nicht – obwohl das Landratsamt Erding ausdrücklich nachfragte, ob die bisherigen Leistungen denn auf das neue Studium so weit angerechnet werden könnten, dass es sich nicht um mehr als 18 Monate verlängert. Das Gegenteil wäre der Fall. Doch das nützt nichts: Gemeint war nur die Unilaufbahn in Deutschland.

So werden alle Anträge von Konstantin Gvasalia nach Aktenlage abgeschmettert; zu einer mündlichen Verhandlung kommt es nicht. Vielleicht auch deshalb, weil sich sein erster Anwalt, ein aus einer Sat.1-Gerichtsshow bekannter Mann, nach Ansicht Gvasalias nicht genug gekümmert hat, was der natürlich bestreitet. Am 13. Februar 2005 verhaftet die Polizei Gvasalia vor der Tribüne, einer Kneipe in der Münchner Studentenstadt.

Dass er bislang noch nicht abgeschoben wurde, verdankt er Maka D. Die gebürtige Georgierin lebt seit langem in Deutschland, hat hier studiert, einen deutschen Mann geheiratet und arbeitet an der Universität. Sie hat Gvasalia bei einem Vortrag kennen gelernt und kümmert sich jetzt um seinen Fall. Sie hat ihm einen neuen Anwalt besorgt, den Flüchtlingsrat in München angerufen und mithilfe einer Abgeordneten der Grünen eine Petition beim Bayerischen Landtag eingereicht. Und sie hat eine Hand voll Fotos mitgebracht, die sie nach dem Besuch im Gefängnis zeigt. Man sieht darauf einen großen Mann mit leicht lockigem, braunem Haar, der fröhlich, jungenhaft und nachdenklich zugleich wirkt. Der Konstantin Gvasalia, den man soeben in Stadelheim gesehen hat, erscheint im Vergleich zu den Bildern wie ein Gespenst.

Was auch daran liegt, dass sich der Georgier in den ersten Wochen hinter Gittern aus purer Verzweiflung im Hungerstreik befand; inzwischen isst er aber wieder. Außerdem ist er nervlich angegriffen. „Ich bin zum Neurotiker geworden durch den Streit mit dem Landratsamt und durch das Gefängnis“, ruft Gvasalia über die Milchglasscheibe in Sprechzimmer 26 hinweg. Als wollte er das unterstreichen, fabuliert er kurz darauf von einer Verschwörung gegen ihn, weil er sich bei einer öffentlichen Diskussion mal kritisch zur Politik in Deutschland geäußert hat.

Wenn man Gvasalia während dieser halben Stunde Besuchszeit erlebt, ungeduldig, aufbrausend und voll Zorn, weil er sich ungerecht behandelt fühlt, wenn man dazu Briefe liest, die er etwa an das Verwaltungsgericht geschrieben hat, dann ahnt man, dass er nicht eben diplomatisch mit den für ihn zuständigen Beamten umgegangen ist. Vielleicht liegt darin ein Grund, dass bei der Gewichtung der Fakten und ihrer Interpretation im Zweifelsfalle immer gegen Gvasalia gewertet wurde.

Zum Wintersemester 2002 etwa legte er seinem Antrag auf Aufenthaltsbewilligung die – unbedingt notwendige – aktuelle Immatrikulationsbescheinigung bei. Allerdings hatte ihm die Uni trotz des zu diesem Zeitpunkt bereits bewilligten Fachwechsels die Bescheinigung auf „Orthodoxe Theologie“ ausgestellt, erst Wochen danach folgte die Änderung. Später aber hielt das Landratsamt Gvasalia vor, er habe sich durch bewusstes Verschleiern die Aufenthaltsverlängerung erschlichen – obwohl er über gar keine andere Immatrikulationsbescheinigung verfügte, die er hätte vorlegen können, und obwohl er ein Jahr später ganz selbstverständlich die Bescheinigung für das neue Studium der Geschichte einreichte.

Misstrauen der Ämter

In diesem Sinne zieht sich ein schwer nachvollziehbares Misstrauen der deutschen Behörden durch die Akten – das wohl letztlich zur Verhaftung eines Studenten führte, der sich möglicherweise in der Wahl seines Fachs zunächst geirrt hatte, diesen Fehler aber korrigieren und damit wesentlich schneller als geplant zu seinem Abschluss kommen wollte. Juristisch betrachtet lässt sich dieses überzogene Vorgehen rechtfertigen. Nur hätten Landratsamt und Gericht sehr wohl die Möglichkeit besessen, sowohl bei der Zulassung des Studienwechsels anders zu entscheiden als auch in der Frage, ob es in diesem speziellen Fall menschlich irgendwie vertretbar ist, einen völlig unbescholtenen Studenten monatelang einzusperren.

Ruft man beim Landratsamt Erding an, wird auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts München verwiesen. Beim Verwaltungsgericht verweist man auf ein noch mögliches Hauptverfahren, über das in den nächsten Wochen entschieden werde.

Die beim Landtag eingereichte Petition wird Gvasalia wohl einstweilen vor der Abschiebung bewahren, andere Probleme löst sie nicht. „Seine Eltern in Georgien wissen noch von nichts“, erzählt Maka D., „sie sind schon ziemlich alt, und niemand traut sich, ihnen zu sagen, dass ihr Sohn im Gefängnis sitzt. Sie würden das nie verstehen.“