Gestalte deinen Code

Markenzeichen Wackelkamera: Mit dem Dogma-Manifest, vor zehn Jahren von Lars von Trier medienwirksam präsentiert, legte das skandinavische Kino gewaltig vor im Kampf um den Markt des Authentischen. Lernen kann man daraus immerhin, wie eine kulturelle Marketingstrategie aussehen muss

Nah dran an der Wirklichkeit? Tatsächlich zielendie Dogma-Regeln auf eine Verschleierung des Technischen

VON DIETMAR KAMMERER

Im Juni 2002 wurde der Anarchismus noch unbürokratischer. Das Dogmesecretariat, bislang als Prüfstelle zuständig für die Vergabe der Dogma-Zertifikate, verkündete mit sofortiger Wirkung seine Selbstauflösung. Man habe lange genug die Rolle des filmischen Überwachungsvereins in Sachen Dogma 95 gespielt, jetzt gelte es: „Back to basic anarchism“. Entgegen der ursprünglichen Absicht drohten die zehn Gebote des „Keuschheitsgelübdes“ (keine Musik außerhalb der Szene, keine Filmfilter usw.) zu einer Genre-Formel zu verkommen. Unter diesen Umständen dürfe es keine Zentralinstanz mehr geben, die alleinige Deutungshoheit über die Umsetzung der Spielregeln für sich beanspruche. Als letzten Akt gab das Sekretariat den Filmemachern dieser Welt den Auftrag und die Erlaubnis, fortan Dogma-Filme auch ohne ihren Segen zu machen: „Es ist eine Idee und keine Marke. Es sind keinerlei Urheberrechtsansprüche damit verbunden.“

It is an idea and not a brand: „Branding“ kommt von „brandmarken“, dem Kennzeichnen der eigenen Herde in Abgrenzung zu den anderen Tieren, die keinem gehören oder jemand anderem. Die Lektion der Kuhherde: Weil ein Rindvieh wie das andere aussieht, muss man das eigene mit einem Zeichen versehen, das so seinen eigenen Mehrwert bildet. Seit den Tagen der Cowboys hat das Branding eine beispiellose Erfolgsgeschichte erlebt. Es ist mittlerweile die verkaufsfördernde Strategie schlechthin: das Wappen der Produkte im semiotischen Kapitalismus.

Und, gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz: auch das Label „Dogma“ war selbstverständlich ebenfalls so eine Marke. Man braucht es nicht so sarkastisch zu überspitzen wie Georg Seeßlen, der feststellte: „Wie man es auch dreht und wendet, die ästhetische Geste zerfällt doch wieder nur in einen Witz und in ein Geschäft.“ (Allerdings nur, um gleich darauf ein versöhnliches „Warum auch nicht?“ anzuschließen.) Den vielfach verschlungenen Knoten, der diesen dänischen Witz und das Geschäft aneinander bindet, zumindest teilweise aufzulösen, wäre anlässlich des zehnjährigen Jubiläums einen Versuch wert.

Schon der erste Auftritt war auf maximale Medienwirksamkeit hin inszeniert. Am 20. März 1995, auf einer Pressekonferenz zum 100. Geburtstag des Films im Pariser Odéon-Theater, präsentierte Lars von Trier vor versammelter Medienöffentlichkeit ein feuerrotes Flugblatt, das nichts weniger aussagte, als dass es nichts zu feiern gab. Mit dem Kampfruf „Dogma 95 ist eine Rettungsaktion!“ wandten sich die Unterzeichner gegen ein Kino, das an „gewissen Tendenzen“ zu ersticken drohe. Ausgerechnet in der Hauptstadt des Landes, das beanspruchte, die Wiege nicht nur des Kinos überhaupt, sondern des Films als einer Kunstform zu sein, fuhren die dänischen Dogmatisten mit der Attitüde des Bürgerschrecks eine offene Attacke gegen die Nouvelle Vague. Der Vorwurf: bürgerlich, dekadent, individuell. Eine kühl kalkulierte Wut: Nicht das Kommerzkino aus Hollywood wurde angegriffen – an dessen Publikum ist eh nicht ranzukommen –, die eigentliche Konkurrenz im Wettbewerb um die Kinokassen erkannte man zielsicher im Autorenkino.

Das Presseecho war garantiert, obwohl man noch nicht einmal einen fertigen Film vorzuweisen hatte, um die hohen Ansprüche zu belegen. Aber um fertige Filme ging es nicht. Der spektakuläre Auftritt sicherte dem Dogma-Projekt die notwendige Aufmerksamkeit zu einem Zeitpunkt, als die Unternehmung an monetären Schwierigkeiten vorzeitig zu scheitern drohte. In zähen Verhandlungen mit der dänischen Kulturministerin Jytte Hildén hatte von Trier eine Zusage über die Förderung von vier Low-Budget-Filmen erreicht. Gegen diese Umgehung des offiziellen Weges legte das Dänische Filminstitut jedoch ein Veto ein. Wie hätten sie es auch billigen können, dass nicht unbedeutende öffentliche Fördermittel ausschließlich einer einzigen Produktionsfirma – von Triers Zentropa – zugute gekommen wären? Das gesamte Vorhaben stand auf der Kippe, erst in letzter Minute – und nach der Flugblattaktion – sprang der dänische Fernsehsender DR TV ein.

Als „vollkommen utopie- und mythenlos“ verdammte Georg Seeßlen die Kargheit der ersten Dogma-Filme. Wer weder zukunftsweisende Utopien noch vergangenheitserklärende Mythen anzubieten hat, muss sich desto entschlossener in die Gegenwart stürzen, Fluchtschneisen ins Hier und Jetzt schlagen, muss um jeden Preis „Echtheit“ produzieren. Wie das gehen soll, hatte ein anderes Medium schon vorgemacht. Seit Beginn der Neunziger war „Reality TV“ die eigentliche „neue Welle“, der Kult um Authentizität (oder was dafür ausgegeben wurde) war aus den Flimmerkisten nicht mehr zu vertreiben. Von Trier und sein Mitstreiter Thomas Vinterberg formulierten die Antwort des älteren Mediums auf diese Herausforderung: Sie forderten das Kino auf, Fernsehen zu werden.

Im Kampf um den Markt des Authentischen legte die Marke Dogma gewaltig vor: nicht nur in der Filmästhetik (der Zurück-zu-den-filmischen-Wurzeln-Geste, die eine vorhersehbare Diskussion entfachte über Authentizität, echte Fakes und falsche Echtheit und wie die Wirklichkeit in die Maschine gelangen können soll), auch die Produktionsverhältnisse wurden in den Dienst einer Rhetorik der Authentizität gestellt. Diese muss streng als Fetisch gelesen werden, das heißt: Was in Wirklichkeit einen Mangel erleidet, wird als vollständig halluziniert.

Fetisch eins: Dogma heißt Low-Budget-Kino. In Wirklichkeit war das Manifest nie als Kostensenkungsprogramm gedacht – dafür wäre es auch viel zu ineffizient. Allein die Vorgabe, Ton und Bild nie getrennt voneinander aufzunehmen, führt zu enormen Kostensteigerungen, da immer mehrere Tontechniker damit beschäftigt sind, mit mehreren Mikros wenigstens eine anständige Tonspur aufzunehmen. Auch dass nur an Originalschauplätzen gedreht werden darf, bedeutet in der Praxis, das gesamte Team kostentreibend an weit entfernte Drehorte fahren zu müssen, weil nur dort die notwendigen Requisiten vorgefunden werden können.

Fetisch zwei: Dogma sei Außenseiter: Ins Manifest eingeschrieben ist das Versprechen, dass endlich die Underdogs als Herausforderer gegen ein übermächtiges System („das falsche Kino“) antreten dürfen. In Wirklichkeit war Lars von Trier, Erster unter Gleichen, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung längst ein international gefeierter Regiestar, dessen sämtliche Filme seit „Element of Crime“ es bis ins Filmfestival von Cannes schafften und dort sowie anderswo mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet wurden.

Fetische drei und dreieinhalb: Dogma sei ganz nah dran an „Wirklichkeit“, und zwar dank Video. Die nervöse Handkamera und die grobgerasterte Videoästhetik sind selbst zum Markenzeichen geworden. Gerne wird deshalb der Vergleich zum Cinéma-vérité-Stil der 60er-Jahre gezogen. Dabei hatte man damals erkannt (und später wieder vergessen), dass ein „wirklicher“ Stil nur derjenige sein kann, der die Veränderung des Vorgefundenen durch die Anwesenheit des technischen Apparates deutlich vor Augen führt. In Wirklichkeit zielen die Regeln des Keuschheitsgelübdes im Gegenteil auf eine aufwändige Verschleierung des Technischen, und damit folgen sie derselben Strategie der Illusionierung wie jedes x-beliebige Hollywoodprodukt.

Fetisch vier: Dogma demokratisiert die Produktionsmittel. Von der „ultimativen Demokratisierung des Mediums“ schwärmte von Trier nur im Manifest. In Wirklichkeit blieben die Hierarchien zwischen Regisseur und dem Rest der Crew unangetastet. „Idioten“ wurde von Lars von Trier selbst und drei weiteren Kameraleuten gefilmt, in der endgültigen Schnittfassung wurden ausschließlich die Bilder aus der Kamera des Regisseurs verwendet. Die Filmarbeiten waren in etwa so „demokratisch“ wie die Machtverhältnisse in der Kommune der „Idioten“ selbst.

So weit, so gut, nur dass jede noch so gründliche Entfetischisierung des Dogma-Komplexes gegen die popkulturellen und filmhistorischen Implikationen und Komplikationen, die mehrfach gebrochene Ironie und den quasireligiösen Ernst, die je unterschiedlichen Resonanzen, die dieses Vorhaben in verschiedenen Kontexten auszulösen vermochte und in Nachahmern und Epigonen auch nach zehn Jahren noch vermag, nicht anstinken können wird – und wozu denn auch? Statt nutzloser Entlarvung könnte man also (und hier soll es geschehen) einige Schlüsse anbieten: Wie sieht er nun aus, der Code einer erfolgreiche Marketing-Strategie à la Dogma? Zum Beispiel wie eine Checkliste in fünf Punkten.

Erstens: Intermedialität. Mache deinen Code auf so vielen Ebenen (künstlerisch, kommerziell, ideell, intermedial usw.) so anschlussfähig wie möglich. Er muss übertragbar sein auf andere künstlerische und mediale Felder. (So sind „Dogma-Comics“ denkbar, genauso wie „Dogma-Bücher“, „Dogma-Musik“ usw.)

Zweitens: Kompaktheit und Verständlichkeit. Gestalte deinen Code so, dass er transportfähig ist. Formuliere ihn verständlich, einprägsam und so konkret wie möglich. Es muss möglich sein, ihn in kompakter Form (als gegliedertes Regelwerk) zu formulieren – und damit zu verbreiten. (Das Modell Franchising: Auch eine McDonald’s-Filiale bedeutet nichts anderes als eine Reihe von Handlungsanweisungen, die in einem Handbuch zusammengefasst sind.)

Drittens: Globalität und Spezifität. Der Code muss global akzeptabel sein. Damit er interkulturell verstehbar ist, muss er auf ein gemeinsam geteiltes Set von Wünschen, Ansprüchen, als Defiziten erfahrenen Einschränkungen usw. antworten können. Gleichzeitig muss er spezifische, lokale Umsetzungen, also Wiedererkennung bei größtmöglicher Variationsbreite, erlauben.

Viertens: Minorität. Ein Feindbild ist unerlässlich. Der Code ist nicht nur für, sondern auch gegen etwas, was als hegemonial und dominant gesetzt wird, was als zu überholt, zu falsch, zu etabliert denunziert werden kann. Erst der Kontrast schafft das notwendige Profil.

Fünftens: Universalität. Der Code muss als Ideologie formulierbar sein, also absolute, überzeitliche Gültigkeit beanspruchen (etwa behaupten, „die Wahrheit des Filmemachens“ entdeckt zu haben.) Es darf nie um weniger gehen als the real thing, das ganze Wahre.