Flucht ins Diesseits

Hier zersägen die Instrumente ihre Harmonien und lassen es im Songgebälk knacken. Das Karlsruher Kammerflimmer Kollektief behauptet auch mit dem neuen Album „Absencen“ seine Sonderstellung zwischen Free Jazz und Electronica

Kaum einem anderen Projekt gelingt ein solcher Spagat zwischen eingängigen Melodien und Freejazz-Dekonstruktionen

VON GUIDO KIRSTEN

Lichterloh. Das erste Stück der neuen Kammerflimmer-Kollektief-Platte heißt nicht nur so, es hört sich auch so an. Wie eine große Ode an das Feuer und dessen destruktive Kraft. Nach etwas mehr als zwei Minuten fängt es im weit gespannten Melodiebogen an zu knistern, vom Saxofon schlagen Flammen hoch, es knackt im Songgebälk. Der Kontrabass scheint klangmalerisch prasselndes Holz zu imitieren. Auf dem Höhepunkt hat man den Eindruck, als wollte das Gerüst jeden Moment zerbersten. Und dann, ganz plötzlich, kehrt wieder Ruhe ein, es züngeln nur einzelne Flämmchen nach, am Schluss bleibt die Harmonie wärmender Glut.

Das Kammerflimmer Kollektief hat hierzulande einen Sonderstatus. Kaum einem anderen Projekt gelingt ein solcher Spagat zwischen großen eingängigen Melodien und radikalen Freejazz-Dekonstruktionen. Seit den späten Neunzigern folgt die Instrumentalband aus Karlsruhe einer Eigengesetzlichkeit, die sich von aktuellen Trends kaum tangieren lässt. Im Rahmen der kurzen Postrock-Euphorie konnte man damals auf das Kollektief aufmerksam werden.

Kammerflimmern war damals noch ein Ein-Mann-Kollektiv: Gitarrist Thomas Weber, der die Tracks komplett selbst zusammensampelte, programmierte und einspielte. Zur Konzertumsetzung der Stücke wurden dann Musiker aus der Indie- und Jazzszene verpflichtet. So entstand die zweite Platte „Incommunicado“ als Liveversion der Stücke der ersten. Allerdings in Fassungen, die so verändert waren, dass nur Spuren an die Originale erinnerten. Damit waren mit den ersten beiden Aufnahmen auch die Pole festgelegt, zwischen denen das Kammer Kollektief fortan „mäandern“ (so heißt die erste Platte) sollte: die progammierten Beats und elektronischen Bearbeitungen auf der einen, die freejazzigen Liveimprovisationen auf der anderen Seite. Noch auf dem dritten Album „Hysteria“ (dem heimlichen Meisterwerk) standen sich im Studio produzierte und live eingespielte Stücke hörbar gegenüber. Auf der folgenden Platte „Cicadidae“ waren die Pole dann stärker aufgelöst bzw. ineinander verschränkt. Nicht mehr eine vorprogrammierte Idee bildete unbedingt die Basis, sondern mehr und mehr rückten die Studioaufnahmen als Basismaterial ins Zentrum – von hier aus wurde dann weitergebastelt. Und Thomas Weber ist auch nicht mehr das allein herrschende Mastermind der Band; das Kammerflimmern ist immer kollektiver geworden.

Klangästhetisch ist „Absencen“ (Staubgold/Indigo), die neue Produktion, recht nah am Vorgänger. Ähnlich große, weit gespannte Melodiebögen, eine semi-orchestral anmutende Instrumentierung, eine gewisse Heterogenität an musikalischen Einflüssen, die doch zu einem homogenen Ganzen zusammengegossen wird. Und wenn die Instrumente aus dem Songkorsett auszubrechen und frei zu improvisieren beginnen, als hielten sie die schwelgerischen Harmonien selbst nicht aus, dann liegen auch diese (Aus-)Brüche nicht über, neben oder quer zum restlichen Material, sondern gehen ganz darin auf.

Zusammengehalten werden die Stücke oft von einem beckenlastigen Schlagzeug, das gleichzeitig treibt und swingt. Insgesamt erscheint „Absencen“ musikalisch noch vollmundiger als „Cicadidae“, noch reicher instrumentiert, mit noch mehr Mikromelodien. Oder, wie Bassist Johannes Frisch meint: „jazziger, weil gespielter“. Auf der anderen Seite sind die Freejazz-Einlagen noch rauer, aggressiver und radikaler. Als müssten sich die beiden Pole in jedem Fall die Waage halten, damit die Musik nicht in die eine der beiden Tendenzen umkippt: „Das ist ja vielleicht das Charakteristikum unserer Musik: dass sie diese Schönheit behauptet, die aber auch gleich wieder zerstört wird.“

Fragen nach unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der Band verneint Frisch und betont die gemeinsame Entwicklung. Die Musiker des Kammerflimmer Kollektiefs, die wie Frisch selbst und Saxofonist Dietrich Foth eher aus der Freejazz-/Improvszene kommen, hätten sich mehr und mehr daran gewöhnt, an eine elektronische Ästhetik angelegt zu spielen. Und Leute wie Thomas Weber, die ursprünglich nicht von der Improvisation kommen, seien heute auch auf ihrem Instrument deutlich experimentierfreudiger. „Alle arbeiten gemeinsam an einem Wohlklang, einer Hymnik zusammen, aber alle sind auch fähig, diese im nächsten Moment hemmungslos zu zerkratzen.“

Dieses Zerkratzen ist ganz wörtlich zu verstehen; tatsächlich klingen die Instrumente nicht selten, als würden sie etwas zerkratzen, zerreißen oder zerreiben wollen. Weniger die Tonalität steht im Vordergrund als die Materialität des Klangs. Für Johannes Frisch ist dieses Erforschen und Erfinden von Klängen, die sich mit dem Instrument erzeugen lassen, tatsächlich „Teil der Spielhaltung“, die auch einer gewissen Tradition europäischer Improvmusik entspricht. Besonders dank einer außergewöhnlichen Mikrofonierung erklingen die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit auf „Absencen“ noch akzentuierter und klarer als zuvor.

Die angesprochene Hymnik, das Ätherische an der Kammerflimmer-Musik, verweist immer auch auf etwas Außerweltliches. Spontan stellen sich Bilder von tanzenden Feen, spielenden Kobolden und verwunschenen Wäldern ein. Tatsächlich waren solche Assoziationen im Kompositions- und Produktionsprozess allerdings nicht beabsichtigt, vielmehr ging es um diesseitige Bewusstseinszustände. Momente der geistigen Abwesenheit, wie Thomas Weber sie beschreibt: „zwischen Wachsein und Schlaf, oder wenn man im Zug sitzt und aus dem Fenster guckt und dabei eigentlich an gar nichts mehr denkt. Oder wenn du in der Badewanne liegst und die Wassertemperatur wärmer ist als die des Körpers und man das Gefühl bekommt sich langsam aufzulösen.“

Das sind die Augenblicke, die auf ganz alltägliche Art und Weise den Alltag transzendieren: realistische Eskapismen. Nach diesen strebt das Kammerflimmer Kollektief auch bei seinen Liveauftritten, und ihnen hat es mit den gebrochenen Hymnen auf „Absencen“ kleine musikalische Denkmäler gesetzt.