Sauber aufgestellt

Gefühle im Angebot: Für 110 Euro kann man seine Kindheit nachspielen. Und sich von der Therapeutin erklären lassen, dass der Vater „es nicht so gemeint hat“. Ein Selbstversuch

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

„Kannst du die tiefe Liebe in dir spüren?“ Ich schaue meiner Mutter, meinem Vater und meiner Großmutter in die Augen. Oder besser: Sie schauen in meine. Daneben steht meine Schwester, auch sie hat den Blick auf mich gerichtet. Alle starren so angestrengt, als bekämen sie’s bezahlt.

Ich schließe die Augen und versuche, mich an das Versprechen zu halten, das ich mir selber für dieses Wochenende abgenommen habe: Sei absolut ehrlich mit dir und den anderen, sag nur, was du auch wirklich fühlst! Der Verwandtenhaufen, der auf mich so fremd und versteinert wie Rodins „Bürger von Calais“ wirkt, löst bei mir ganz anderes aus als „tiefe Liebe“.

Aber es bleibt keine Zeit, mir Klarheit über das Gefühl zu verschaffen; ich soll mich meinem Vater nähern. Er heißt mich willkommen: Seine Hände sind mir mit nach oben gekehrten Handflächen entgegengestreckt, er lächelt mich an. Es ist ein einladendes Lächeln. Er sagt, wie sehr er auf mich gewartet hat. Ohne Zögern gehe ich zu ihm und ergreife seine Hände. Gleich wird es zur Umarmung kommen. Ich weiß es, denn ich habe es an diesem Tag schon dreimal erlebt. Bei den anderen.

Ein paar Augenblicke später finde ich mich inmitten einer Traube aus Verwandten: eine neue Menschenskulptur. Wir stehen in regungsloser Umarmung, Hände treffen sich, Köpfe werden aneinander gedrückt, man hört tiefes Atmen, vorhin ist bei diesem Schlussbild heftig geweint worden. Meine Schläfe ruht an der meiner Schwester, das ist schön, denn sie ist ein wunderbar zartes Mädchen mit alabasterweißer Haut und roten Haaren, und sie riecht nicht, wie mein Vater, nach Nikotin. Dann ist es vorbei, die Gruppe löst sich auf, alle gehen zurück auf ihre Plätze.

Die Familienaufstellung in der schönen Frankfurter Altstadtwohnung neigt sich dem Ende zu. Ich habe Glück gehabt, mein Part hat besonders lange gedauert und mehr Personen involviert als alle anderen Aufstellungen dieses Tages. Uta, die Veranstalterin, die uns gleich eingangs zum allgemeinen Duzen ermuntert hat, hat sich mit mir besondere Mühe gegeben. Offen gestanden habe ich nichts anderes erwartet. Gleich zu Beginn hatte sie mich gefragt, was für ein Arzt ich denn sei – der verräterische Doktortitel; und mein Ehrlichkeitsgelübde dürfte sein Teil dazu beigetragen haben, dass mir eine besonders pralle Darbietung zuteil wurde: Mehrfach bin ich im Lauf der Veranstaltung aufgefallen, weil ich mich wirklich an meine Gefühle und nicht an Utas Regieanweisungen gehalten habe. So einen versucht man entweder auszuschließen oder zu beeindrucken.

Mag sein, dass die Hochkonjunktur der „Familienaufstellungen“ schon vorüber ist. In mein persönliches Umfeld ist diese Psychomode jedoch erst in letzter Zeit gedrungen. Plötzlich tauchten immer mehr Freunde und Bekannte auf, die mit glänzenden Augen von den nachgespielten Familiensituationen berichteten. Zugegeben, ein paar der Erzähler waren vielleicht ein bisschen new-agig angeturnt, aber keiner gehörte zur Obskurantismusliga. Eine heftige Diskussion mit einem der Glanzäugigen hatte schließlich den Ausschlag gegeben: Das wollte ich doch aus eigener Erfahrung beurteilen können, schon allein aus beruflicher Neugier.

In der Vorstellungsrunde und den Pausengesprächen mit den anderen Teilnehmern wird mir klar, dass wir nicht alle von gleichen Voraussetzungen ausgehen. Fünf der elf Anwesenden werden (für 110 Euro) „aufstellen“, zwei (für 40 Euro weniger) nur mitmachen, und der Rest, also vier, sind so genannte „Stand-ins“, das heißt von der Veranstalterin einbestellte „Semiprofessionelle“: Entweder sind sie dabei, selber ein Trainerzertifikat zu erwerben, oder es sind ehemalige Klienten, die ein bisschen süchtig nach dem Psychospiel geworden sind und gerne immer wieder mitmachen. Ohne diese Semiprofessionellen würde die ganze Veranstaltung nicht funktionieren. Zum einen wegen des Gender-Gap: Auch die Familienaufstellung leidet an der typischen Therapiequote – bis auf mich gibt es nur weibliche Teilnehmer. Tom und Uli, die beiden anderen Männer, sind Stand-ins.

Uli ist jung, sportlich, sympathisch, langhaarig, Student der Kulturwissenschaften und selber auf dem Weg zum Familienaufsteller, Tom irgendwas um die fünfzig, nicht weniger sympathisch und langhaarig und kommt aus Amerika. Stand-ins sind auch Erika, die sich auf die Prüfung zur Psychotherapeutin nach dem Heilpraktikerparagrafen vorbereitet, und Suse, die eine Gewohnheit daraus gemacht hat, ihr Leben nach wechselnden Familienaufstellungen immer wieder neu zu bewerten, wie sie in der Mittagspause erzählt. („Wie soll denn das gehen?“, fragt ihre Sitznachbarin. „Das kann doch logischerweise immer nur dasselbe Ergebnis haben.“ Aber Suse schüttelt wissend den Kopf.)

„Vollzahler“ sind neben mir Anna, Thea, Julietta und Ingrid. Alle haben ernste Probleme. Anna, die hübsche Endzwanzigerin mit osteuropäischen Wurzeln, möchte gerne Beziehungen halten können, Thea den mutmaßlichen Missbrauch durch ihren Vater verarbeiten, Julietta überhaupt etwas fühlen können und die scheue Ingrid lernen, ihre Ängste besser in den Griff zu bekommen.

Als ich in der Vorstellungsrunde die Motive höre, komme ich mir wie ein Eindringling vor. Nicht weil ich kein Problem hätte, aber gewiss keines dieser Qualität, das ich einer willkürlich zusammengewürfelten Eintagsgruppe unter der Leitung einer Trainerin anvertrauen würde, deren Qualifikation mir nicht bekannt ist. Sie selber nennt sich übrigens Therapeutin.

Die Zeit ist knapp, schließlich soll nach der von dem ehemaligen katholischen Priester Bert Hellinger entwickelten Methode die krank machende Familienstruktur von fünf Anwesenden herausgefunden werden. Nach einer kurzen Begrüßung kommt Uta schnell zur Sache. Der Ablauf ist immer gleich: Die Aufstellerin benennt das Problem, das sie bearbeiten möchte. Dann wählt sie aus dem Kreis der Anwesenden Stellvertreter für Vater, Mutter und sich selbst, die sie im Raum so platziert, wie sie ihr Verhältnis zueinander sieht. Vom Urteil der Trainerin hängt ab, ob noch andere Familienmitglieder hinzukommen. In jedem Fall wird der jeweilige Aufsteller später selbst in das Tableau einbezogen. „Fühlt euch ein“, lautet Utas knappes Kommando an die Aufgestellten. Da wir angewiesen sind, die Wahl der Vertreter naturalistisch zu gestalten – Frauen sollen von Frauen, Männer von Männern dargestellt werden –, ist die Wahlmöglichkeit beschränkt.

Erika bekommt anfangs immer die Mutterrolle, die älteste Teilnehmerin ist auf Oma abonniert. Für die Väter kommen nur Uli, Tom und ich infrage. Jedenfalls ist dafür gesorgt, dass in jeder Aufstellung die Semiprofessionellen zentrale Positionen besetzen. Sie geben den Takt an und den Ton vor, unauffällig, aber wirkungsvoll bestimmen sie die „Einfühlungsdramaturgie“. Ihnen gehen Worte wie „Sehnsucht“ und „Liebe“ leicht von den Lippen, sie demonstrieren durch ihr Verhalten ad oculos, welche Blicke und Gesten angesagt sind, wie man zu sprechen und sich zu bewegen hat. Die schauspielerisch Beste von ihnen ist fraglos Erika: Sie geht nicht, sie schreitet. Sie spricht nicht die von der Trainerin vorgegebenen Sätze nach, sie zelebriert sie in getragenem Weiheton. Ihre blaugrünen Augen sind mit einem grünblauen Make-up umrandet, das ihr bei aller mütterlichen Betulichkeit etwas von der Aura alter Zelluloid-Diven verleiht. Überhaupt erinnert vieles an Stummfilm: Die gesuchten Gesten und bedeutungsvollen Gesichter, die manchmal unfreiwillige Komik der übertriebenen Theatralik.

Bald bewegen sich die Teilnehmer wie am Schnürchen. Willig folgen wir Utas Anweisungen, die die Interaktionen der Gruppe anleitet und interpretiert und sie so lange umarrangiert, bis ein neues Familienbild entstanden ist. Dazu werden uns Sätze vorgesagt, die wir nachsprechen sollen – Sätze, die darauf abzielen, eine veränderte emotionale Präsenz auszudrücken. „Nimm ihren Schmerz!“ Manchmal, als ginge es um das Tempo eines Downloads, von der Nachfrage begleitet: „Wie viel Prozent hast du jetzt genommen?“ Einer ängstlichen Aufstellerin wird mit der geballten Frauenpower von Mutter, Groß- und Urgroßmutter, die sie von hinten umfangen, der Rücken gestärkt. „Fühlst du die Kraft?“

Es kommt darauf an, wie man dasteht. Also wird weiter umgestellt, nach Gefühlen gefragt, werden Sätze diktiert – bis es schließlich passt. Als Ältester und zudem einziger Mann, der nicht zu Utas Entourage gehört, kann ich mich über Beschäftigungsmangel als Vaterfigur nicht beklagen. Bei der hübschen Anna darf ich den Geliebten ihrer Mutter vertreten, bei Thea den leiblichen Vater, der sie missbraucht haben soll. Das ist nicht nur eine unangenehme Rolle, sondern für mich eine schwierige Situation: Thea tut mir nämlich wirklich Leid. Man sieht ihr an, dass sie nicht zu den Glückskindern des Lebens gehört, und die schüchterne, liebevolle und wirklich einfühlsame Art, mit der sie sich bisher am Spiel beteiligt hat, haben mich für sie eingenommen.

Bei ihrer Aufstellung hat Thea besonderes Pech: Ihre Vertreterin, die semiprofessionelle Suse, gestaltet ihre „Einfühlung“ im Stil der Kiefersfeldener Ritterspiele: Vier Meter von mir entfernt, fixiert sie mich, ganz geschändetes Kind, mit wild anklagendem Blick, taumelt noch einen Schritt zurück und ringt nach Atem, als würde sie vom Leibhaftigen persönlich bedrängt. Ich finde das peinlich – und hochgradig verlogen: Das ist nicht Thea, nach meinem Empfinden stellt Suse nicht dar, was sie fühlt, sondern was dem eigenen und dem Dramatisierungsbedürfnis der Veranstaltung folgt. Getreu meiner Selbstverpflichtung antworte ich also auf die Frage, was ich fühle: „Ich spüre eine Lüge.“ Das trägt mir keine guten Noten ein. „Halt“, interveniert die arme Thea und bringt damit die Regie durcheinander. „Hier läuft was falsch. Er ist ja der Lügner.“ Sie meint ihren Vater, der den Missbrauch zeitlebens geleugnet habe.

Die Gruppe schaut mich vorwurfsvoll an; noch mehr, als ich mich weigere, meiner Tochter den Satz zu sagen, den mir die Trainerin in den Mund legen will: „Wir haben gemeinsam eine Lüge gelebt.“ Wenn ich mich an mein Gefühl halte, kann ich das nicht. Ich empfinde es – und wage das auszusprechen – als unangemessen, als Kitsch. Aber das ist in diesem Kreis eindeutig das falsche Gefühl: Nach dem vorgesehenen Skript, das alle durch die rituelle Wiederholung der immer gleichen Aufstellungsszenen längst verinnerlicht haben, sollte ich jetzt betroffen sein, reumütig und versöhnungsbereit. In Wirklichkeit fühle ich mich hilflos und empfinde Scham-, ja Schuldgefühle. Schuldgefühle, weil ich an einer Inszenierung mitwirke, die Theas Unglück nach meinem Empfinden nur verstärken wird. Ist Angst kein Gefühl?

Ich jedenfalls habe Angst, dass Thea nach ihrer Aufstellung einen kurzen kathartischen Effekt spürt, der bald danach einem schweren Katzenjammer weichen wird. Gleichgültig, ob es so sein wird: Was immer ich jetzt in dieser Situation mache – es ist falsch: Soll ich mein Gefühl verleugnen und der Regieanweisung folgen oder das Missverständnis über die Lüge in Kauf nehmen, an dem Thea so offensichtlich leidet? Als sie wenig später zum Zeichen der Versöhnung ihre Hände in meine legen soll, zögert sie lange, weint herzzerreißend und ergibt sich schließlich dem Druck des Szenarios. Ich fühle mich, als mich ihre kalten Fingerspitzen berühren, gefangen. Nicht nur weil ich mich selber in der exakt gleichen Haltung dastehen sehe wie Tom, als er meinen Vater gab. „Wahnsinn“, sagt Uta angesichts der Tränenflut.

Die Schlussaktion mit meinem Vater war da leichter. Ich musste ihm schließlich keinen Inzest vergeben, sondern sollte, laut Anweisung der Trainerin, lediglich „Hochachtung“ für das empfinden, was er in Krieg und Gefangenschaft durchgemacht hatte. Auch das geht messerscharf an meinem Gefühl vorbei. Ich empfinde für ihn Mitleid – Hochachtung ist etwas anderes.

Auf die Inszenierung solch fader Happy Ends läuft das ganze Projekt Familienaufstellung hinaus: Zum Schluss lässt die Trainerin die „Eltern“ Sätze des Inhalts aufsagen, dass da möglicherweise im Umgang mit dem Kind etwas schief gelaufen sei: „… aber das ging doch nicht gegen dich!“ Umgekehrt werden die Aufsteller zum Geständnis genötigt, die Eltern hätten es ja schwer genug gehabt und es doch eigentlich nur gut gemeint. Erpresste Versöhnung, die vor dem Hintergrund hochgeputschter, nach Auflösung schreiender Affekte und unter dem sozialen Druck der Gruppe mühelos gelingt – und in der psychischen Realität kaum einen bleibenden Platz finden wird.

Zurück bleibt die Illusion der kollektiven Schuldlosigkeit nach dem Motto „Shit happens“: Keiner kann etwas dafür. Für nichts. Geht es nur mir so, dass die angeheizten, aber nicht aufgelösten Affekte partout nicht zu diesem trügerischen Finale passen wollen? Wie mag Thea sich fühlen? Ich schiele zu ihr hinüber, sie sitzt mit immer noch erhitztem Gesicht drei Stühle rechts von mir und wirkt etwas verloren. Mein letztes Gefühl in diesem Raum ist, dass ich mir um sie Sorgen mache. Gerade eben höre ich Uta noch im Vollton der vollbrachten Tat ihr Schlusswort sprechen: „Ich kann das hier nur machen, weil ich meine, dass das alles zum Guten geschieht.“

Ich gehe. In der kalten Abendluft merke ich, wie heiß mein Gesicht ist. Tatsächlich, die Sache hat mich mitgenommen. Insofern kann ich meine glanzäugigen Freunde verstehen. Man fühlt sich „hinterher“ ein bisschen wie nach einer heftigen körperlichen Anstrengung, eine Mischung aus Aufgekratztheit und Erschöpfung, man könnte eine Dusche brauchen – und dringend jemanden, mit dem man die Erfahrung teilen kann. Ich kann es kaum abwarten, meiner Frau davon zu erzählen, um das Ganze noch einmal Revue passieren zu lassen und es dann, durch ihren Blick, aus einer anderen Perspektive neu verstehen und einordnen zu können. Eine notwendige Maßnahme für jede emotional aufrührende Erfahrung – und ein unverzichtbarer Teil jeder therapeutischen Intervention.

Im Fachjargon hieße das „durcharbeiten“. Für die Familienaufstellung offenbar ein Fremdwort: Sie lässt die Teilnehmer mit dem angestochenen Affekt allein. Ein letztes Mal gehen an diesem Tag meine Gedanken zu Thea. Mit wem wird sie die aufgerührten Gefühle besprechen und bearbeiten können? Ganz von ferne höre ich noch einmal Utas Stimme: „… alles zum Guten …“ Und wenn nicht?

CHRISTIAN SCHNEIDER, Jahrgang 1951, lebt in Frankfurt am Main. Er ist Soziologe und Psychologe und coacht Führungskräfte