Als die Frauen noch Bärte hatten

Wie es ist, wenn ein Autor sich vom Sog seiner Geschichte hinreißen lässt: Markus Orths’ transsexueller Schelmenroman „Catalina“

Um nicht an einen Ungläubigen verschachert zu werden, betete die heilige Liberata zu Gott, er möge sie entstellen. Und siehe, schon am nächsten Morgen zierte ein dichter Bart ihr jungfräuliches Antlitz, zum Heidenärger des Herrn Papa. Was lernt man daraus? Es ist ein Kreuz mit dem Schein, nicht hinter jedem Bart muss ein Erlöser stecken, es könnte sich auch nur um die fromme Liberata handeln – oder schlimmer noch: um eine kriegerische Nonne, die noch vor dem Beten eines Rosenkranzes schon zehn Indianern den Kopf abgeschlagen hat.

Die Titelheldin von Markus Orths neuem Roman, Catalina de Erauso, war so eine, und die heilige Liberata ihre Schutzpatronin. Oder muss man sagen: so einer? Denn unter dem Namen Francisco Loyola vertauschte die ehemalige Klosterfrau den Schleier mit der Rüstung und wurde zu einem der spektakulärsten Beispiele dessen, was der Gender-Theoretiker „cross-dressing“ nennt – auch wenn das Kreuz für ihr neues Outfit nur noch in der Form des Degens eine Rolle spielte. Catalina, um 1600 im spanischen Baskenland geboren, verbrachte nach ihrer Flucht aus dem Kloster und dem eigenen Geschlecht den größten Teil ihres Lebens in den Reihen der Conquistadores in Südamerika, wo sie bis zum Lieutenant aufstieg und außer zahllosen getöteten Azteken und Duellanten die Biografie eines ungewöhnlich männlichen Lebens hinterließ. Auf sie bezieht sich der Roman. Erzählt wird, wie das Mädchen, zunächst um ihren Bruder in der Neuen Welt zu suchen, alle möglichen Rollen annimmt, wie es als Junge verkleidet heranreift zu einer Virtuosin der Imitation; wie sie sich schließlich von einer Rebellin gegen ihr eigenes Geschlecht zum Konformisten in dem angenommenen anderen wandelt und die Lust an der Verstellung dem Fluch der Leere weicht.

Hätte es diese Catalina nicht gegeben, Orths hätte sie erfinden müssen, so gut passt die Gestalt in die Problemlandschaft, die seine bisherigen Werke kultivieren: Anpassungsdruck und Widerstand, Identität und Geschlecht, Aufstand der Körper gegen die Vollmacht der Zeichen. Alles Themen und Theorien, die seine Schulsatire „Das Lehrerzimmer“ ebenso speisen wie den Gender-Roman „Corpus“. Doch wenn Orths seine Lieblingsgegenstände bisher eher in der Art eines intellektuellen Erbauungsschriftstellers behandelt hat, sauber geschieden nach dem Problem und seiner erzählerischen Einkleidung, so widerfährt dem neuen Roman nun dasselbe wie seiner Protagonistin: Die Hülle verselbständigt sich, die Fabel nabelt sich ab von ihrer didaktischen Mission. Lustvoll stürzt sich der Autor in jeden Nebenarm, der den Lebensfluss dieser Catalina bewässert, tummelt sich unter der zungenlosen Besatzung einer Galeere des Schweigens, teilt das Bett und Doppelleben mit einem zwangsgetauften Juden im Spanien der Inquisition und springt, wenn’s sein muss, als todbringende Streptokokke in das Geäder der Ureinwohner, um einmal aus dieser bakteriellen Perspektive über die fatalen Folgen der europäischen Kolonisation Südamerikas zu berichten.

„Sie war nicht mehr sie selbst“, heißt es von der Hauptfigur einmal, „sie war jemand anderes und konnte Dinge tun, die Catalina nie hätte tun können, konnte Dinge sagen, die Catalina nie hätte sagen können.“ Mag der Wahrheitssucher Orths an solchem Hochgefühl des Scheins auch Zweifel schüren, der Erzähler Orths verdankt ihm alles. Und vielleicht ist die größte Lüge des Romans denn auch der bibliografische Apparat am Schluss, als könnte der Verweis auf die Quellen kaschieren, wie sehr sich der Autor vom Sog seiner Geschichte hat hinreißen lassen. Glücklicherweise. Denn beim Barte der heiligen Liberata: Hier ist ein Talent zum Manne gereift – was auch immer das nach diesem Buch nun eigentlich heißen mag. STEFAN KISTER

Markus Orths: „Catalina“. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2004, 320 S., 19,90 Euro