Performance gelungen, Papst tot

Nie war Johannes Paul II. so sehr Papst wie in seinem Leiden und Sterben. Es war der Höhepunkt seiner Amtserfüllung – nie konnte er die Leiden Christi so sehr bezeugen. Es macht gerade die Modernität dieses Papstes aus, wie er in seinem Siechtum den natürlichen und den heiligen Körper verschmolz

Im Sterben erbrachte der Papst den Beleg für die Predigt, den Tod nicht zu fürchten

VON ISOLDE CHARIM

Warum hat das öffentliche Leiden und Sterben von Papst Johannes Paul II. so viele Menschen beschäftigt – und längst nicht nur Katholiken? Warum hat es auch gänzlich Ungläubige berührt?

Die einfache Antwort, dass man dies erstmals so hautnah mitbekommen habe, dass es eben ein Medienhype gewesen sei, greift zu kurz. Denn sie erklärt weder, warum dieses lange Siechtum, warum dieses langsame Sterben überhaupt so ausgestellt wurde, noch, warum es zu faszinieren vermochte. Bislang hat der Vatikan in solchen Situationen eine Politik des Schweigens und der Abschottung betrieben. Diesmal aber war alles anders: Es gab eine groß angelegte Inszenierung dessen, was der Theologe F. W. Graf in der Süddeutschen Zeitung jüngst als „Papstpassionsdrama“ bezeichnet hat.

Die Regieanleitungen dazu finden sich bei Ernst Kantorowicz. In seiner berühmten Studie über die „Zwei Körper des Königs“ hat er das Spezifische der Institution Kirche dargelegt: Diese ist ein Verwaltungsapparat auf mystischer Grundlage, ein heiliges juristisches und ökonomisches Management. Sie verwaltet das Heilige und ist dadurch selbst heilig – es ist ihr Gegenstand und ihr Zustand. Dies prägt auch ihr spezifisches Amtsverständnis. So ist der Papst ihr höchster Beamter, insofern sein Amt – wie in jeder Bürokratie – unabhängig von seinem persönlichen Charisma ist, aber er ist auf besondere Weise an das Charisma eines anderen gebunden: Er stellt es dar. Er muss es gleichzeitig inszenieren und sein.

Die zentrale Kategorie dieser heiligen Bürokratie heißt deshalb: Repräsentation. Waren die Päpste im Mittelalter noch bewusst direkte Repräsentanten Christi, so wurden sie in der Neuzeit immer mehr zu dessen Stellvertreter. Karol Wojtyła hat das Konzept der Repräsentation, diese ununterbrochenen Kette mit Christus, diese Kontinuität mit Jesus wiederbelebt. Johannes Paul II. wollte Christus wieder repräsentieren – und zwar unmittelbar, mit seiner eigenen Präsenz, mit seinem eigenen Körper. Das war das Mehr, das Geheimnis seines Amtes. Der natürliche Körper des Papstes wurde zum Repräsentanten Christi. Die polnische Volksfrömmigkeit hatte diese komplexe Theologie Wojtyłas längst begriffen. In vielen polnischen Kirchen stellten Gläubige Wojtyła-Statuen und Ikonen auf, zu denen sie unter Duldung der Pfarrer beteten. Die Bilder des kranken, sterbenden Papstes haben diese Umwidmung der Formel „Stellvertreter des Leidensmannes am Kreuz“ weltweit allen, Gläubigen und Nichtgläubigen, anschaulich gemacht.

Daran wird eine der bislang verkannten Leistungen dieses Papstes deutlich: Es ist ihm gelungen, das Selbstverständnis der Kirche mit ihrer Außenperspektive in Einklang zu bringen. Es wurde oft geschrieben, dieser Papst sei eine äußerst politische Figur. Wodurch aber ist ein Papst heute, da er keine reale Macht hat (zumindest in staatlicher und militärischer Hinsicht) politisch wirksam? Durch seine Präsenz. Und darin war dieser Papst, der „eilige“ Vater, ein Meister. So, wie die Anwesenheit des Papstes immer doppelt zu verstehen war – als Realpräsenz von Karol Wojtyła und als jene Johannes Pauls II, Repräsentant Christi –, so waren seine öffentlichen Auftritte auch immer doppelt: als Präsenz vor Ort und als Medieninszenierungen. Letztere wurden damit quasi zur Repräsentation der Repräsentation Christi. Gerade dieser äußerst konservative Papst, in seinem Kampf gegen Kommunismus, Hedonismus, Liberalismus, war gleichzeitig eminent (post-)modern, was das Verständnis der medialen Durchdringung unserer Wirklichkeit anlangt.

Hier aber muss man präzisieren: Woytiła war nicht modern, weil seine Auftritte den neuen Medien angemessen waren, wie nun allseits behauptet wird. Modern an ihm war, dass er mit sicherem Instinkt die Schnittmenge, die Gemeinsamkeit von Religion und medialer Wirklichkeit erfasst und zu nutzen gewusst hat. So hat er die Verdoppelung der Kirche als heilige Bürokratie weltweit wieder evident gemacht. Und so kommt es, dass die „Versöhnung“ zwischen Religion (genauer: zwischen Katholizismus) und (post-)moderner Welt nicht durch Reformer, Liberale oder Kirchenbewegungen von unten erfolgt ist, sondern gerade durch das konservativste Römertum, das er zielsicher über den Begriff der Repräsentation mit allen Medien im Einklang wusste.

Das öffentliche Leiden und Sterben des Papstes wurde zur reinsten Form dieser „Politik“. Gerade zu dem Zeitpunkt, wo jeder andere Amtsinhaber sich hätte zurückziehen müssen, erlebte er den Höhepunkt seiner päpstlichen Amtserfüllung und deren medialer Wiedergabe. Nie war der Papst so öffentlich wie in seinem körperlichen Leiden und Sterben (das bei jedem anderen Menschen das Moment größter Privatheit ist). Nie war er so sehr Papst. Nie konnte er die Leiden Christi so sehr bezeugen. In seinem kranken Körper erhielt seine Repräsentation der christlichen Passion eine paradoxe Gegenwart: Realität und Darstellung fielen in eins und verstärkten sich gegenseitig. Welch eine Symbiose von Religion und Postmoderne! Die zwei Körper, sein natürlicher und sein heiliger, verschmolzen gänzlich. So „arbeitete“ der Papst gerade in seinem Siechtum und in seinem Sterben am nachdrücklichsten für den Katholizismus.

Kardinal Ratzinger kritisierte, dass Wojtyła in seinen Predigten und Ansprachen den Majestätsplural (der ja für die Kirche steht) gegen die erste Person Singular eingetauscht hat. Ratzinger fand das zu subjektiv, als äußere sich damit Karol Wojtyła persönlich. Tatsächlich hatte dieser Wechsel aber einen ganz anderen Effekt: In diesem „Ich“ äußerte sich der Stellvertreter Christi, der durch die Aufgabe des „Wir“ in die Autorität der Kirche überging. Der kranke, leidende, der sterbende Papst wurde zunehmend immer unmittelbarer, ohne Vermittlung der Institution, zum Repräsentanten Christi.

Und es ist Karol Woytiła gelungen, weltweit – ob bewusst oder unbewusst – als solcher wahrgenommen zu werden. Die Reaktionen von Gläubigen und Ungläubigen belegten das Gelingen dieser „Performance“ (Graf). Damit eröffnete er einen Moment lang einen neuen Universalismus der Kirche. Dies war die Ursache für die erstaunliche Informationspolitik seitens des Vatikans, der das Sterben des Papstes und vorher schon sein Leiden genauestens veröffentlichte.

Dieser Umgang mit der Krankheit des Kirchenoberhauptes brachte dem Vatikan auch viel Kritik ein: etwa den Vorwurf, mit dieser Zurschaustellung des Verfalls die Würde des Papstes zu verletzen. Wessen Würde? Die des Karol Woytiła? Dieser ging aber völlig im Papst auf. Ebenso verfehlte die Diskussion um seine Amtsfähigkeit den Kern dieses Episkopats. Das lässt sich gut am Spezifikum seines Leidens, am Stimmverlust, nachvollziehen. Das Verstummen dieses wortgewaltigen Papstes, der eine Schwindel erregende Anzahl an Sprachen beherrschte, wurde als Argument für seine Arbeitsunfähigkeit angeführt. Tatsächlich war aber genau das Gegenteil der Fall. Ein zentrales Moment dieses Amtes ist die Rhetorik, die das menschliche Wort mit einem spezifischen Gewicht, einer besonderen Bedeutung versieht. Sein Verstummen hat seiner Rhetorik keinen Abbruch getan – es hat diese vielmehr verstärkt. Die vielen schriftlichen Nachrichten des Papstes, ja sogar sein Schweigen und sein weltweit vernehmbares Röcheln beim Ostersegen waren noch nachhaltiger rhetorisch, d. h. sie hatten noch mehr Autorität kraft dessen, der ihr Autor war. Johannes Paul II. war „niemals so charismatisch perfekt wie in den Momenten von Sprachverlust, Zittern und sich abzeichnender Agonie“, so Graf. In seinem viel zitierten Wort, Christus sei auch nicht vom Kreuze gestiegen, verdichtet sich dieses gesamte Setting.

Und ebenso wie seine Krankheit wurde auch sein Sterben zu einer Apotheose des Katholizismus: Die Betonung seiner Gemütslage – heiter, gelassen, ungewöhnlich gelassen – in diesen schrecklichen Stunden, das letzte Vorlesen der Stationen von Jesu Kreuzweg zeugen nicht nur von einem unerschütterlichen Glauben, sondern auch von einer vollkommenen Durchdringung dieses Amtsverständnisses. Auf seinem Sterbebett erbrachte er seine höchste Leistung – den Beleg für seine Predigt, den Tod nicht zu fürchten.

Aber nun, nach seinem Tod, bleibt etwas Schales. Mit ihm ist dieses Charisma verschwunden. Weiter reichte die Repräsentation nicht. Was bleibt, ist die Institution: Die rituelle Bürokratie setzte sich schwerfällig wieder in Bewegung.