Pinsel statt Spule

In der Leipziger Baumwollspinnerei schufteten früher bis zu 4.000 Arbeiter. Heute ist das Fabrikgelände dank einer rührigen Verwaltungspolitik zum Hotspot für Künstler geworden

Das schmiedeeiserne Werkstor steht offen, die Uhr am Eingang zeigt eine längst vergessene Zeit an

VON NINA APIN

Gespenstische Stille herrscht am S-Bahnhof Plagwitz. Der Bus Nummer 60 Richtung Lindenau hält kurz, spuckt ein paar Menschen aus, die unter der S-Bahn-Brücke durcheilen und um die Ecke verschwinden. Bis zur Wende war Leipzig-Plagwitz das industrielle Herz der Stadt – von den 37.000 Einwohnern des Stadtteils war ein Großteil in den rund 40 Fabrikbetrieben beschäftigt. Heute zählt Leipzig mit 60.000 leer stehenden Wohnungen, 20 Prozent Arbeitslosigkeit und stetigem Bevölkerungswegzug zu den schrumpfenden Städten. In Plagwitz stehen die Maschinen still, die prachtvollen Industriebauten aus der Jahrhundertwende warten auf neue Bestimmung – oder den Abriss.

Die Leipziger Baumwollspinnerei, die sich majestätisch zwischen Thüringer Straße und Spinnereistraße erstreckt, wirkt von außen genauso tot wie die anderen Industrieruinen. Das schmiedeeiserne Werkstor steht offen, die Uhr am Eingang zeigt eine längst vergessene Zeit an. Gleisstränge ziehen rostige Linien zwischen den Ziegelkomplexen. Doch der helle Putz an Haus Nummer eins ist offensichtlich neu, „Leipziger Baumwollspinnerei Verwaltungsgesellschaft mbH“ steht auf einem Plexiglasschild mit den stilisierten Umrissen des Geländes. Bertram Schultze, Geschäftsführer der Verwaltungsgesellschaft, öffnet schwungvoll die Tür zu seinem Büro. Ein Notebook thront auf dem klobigen Werktisch, an einem blassgrün gestrichenen Metallschrank hängt, frisch von der Reinigung, Schultzes Berufskleidung: ein schwarzer Anzug, dazu ein schwarzes T-Shirt mit „Spinnerei“-Aufdruck.

Der dynamische Franke mit dem Kurzhaarschnitt ist Architekt, Betriebswirt und überzeugter „Spinner“ – er will das Areal, das von 1884 bis 1990 einen Großbetrieb beherbergte, in die Zukunft führen. „From Cotton to Culture“ heißt die Zukunft, die in einem kleinen grünen Heft festgehalten ist. 45 Künstler posieren in ihren Ateliers. Architekten, Buchdrucker und Hutformenmacher werden bei der Arbeit in hohen, weiß gestrichenen Räumen gezeigt.

„Die Mieter fühlen sich bei uns sehr wohl“, strahlt Schultze und wedelt mit dem grünen Heft. Aus der unsystematischen Ansiedlung von Kreativen zur Wendezeit entwickelte Schultze eine städtebauliche Vision: Die Baumwollspinnerei soll zu einem Magnet für Kunst und Kultur werden, aber kein Disneyland mit voll sanierten Lofts und überteuerten Mieten. Im Auftrag der privaten Eigentümergesellschaft steuert Schultze die Neuvermietung, entwickelt Finanzpläne und Strategien für die Spinnerei. Bislang hat er dabei ein glückliches Händchen bewiesen. Künstlern wie Neo Rauch oder Tilo Baumgärtel bietet er für 3,50 Warmmiete ideale Arbeitsbedingungen, solvente Mieter wie ein Computergroßmarkt bekommen eine schmucke Halle mit Parkplatz. Schultze selbst ist vor elf Jahren dem Charme der Spinnerei verfallen. Damals hatte er als Jungarchitekt selbst ein Büro auf dem Gelände. Jetzt ist er wieder hier, mindestens 10 Stunden am Tag, meist auch am Wochenende. „Irgendwie komm ich hier nicht weg“, lacht er.

In wenigen Stunden findet in Haus 20 eine Vernissage statt. An den weiß getünchten Wänden hängen zarte Bilder von Birkenstämmen und Straßenszenen in verwischtem Grün. „SICHTweisen“ heißt die Ausstellung der Künstlerin und Galeristin Konstanze Siegemund. Hinter dem Galerieraum türmt sich in Stapeln und Regalen die Vergangenheit der Spinnerei. Das Archiv, das eher ein staubiges Durcheinander ist, beherbergt alte Garnspulen, Wannen und Förderwagen aus den Gründerjahren, ein vergilbtes Foto vom Besuch des Genossen Walter Ulbricht von 1954 und Wimpel, die von errungenen Ehren des VEB Kombinat Wolle & Seide als „bestes Betriebskollektiv im sozialistischen Wettbewerb“ künden.

Voller Stolz zeigt Schultze auf ein gerahmtes Bild, das einen Kaiser-Wilhelm-bärtigen Arbeiter mit Strohhut auf einem Baumwollfeld zeigt. „Das ist ein ganz skurriles Kapitel der Spinnerei-Geschichte“, erklärt er. 1907 startete der Leipziger Mutterbetrieb eine eigene Baumwoll-Plantage in Deutsch-Ostafrika – doch schon 1918 war der koloniale Ausflug der „Leipziger Baumwollspinnerei-Pflanzungen Cherhami bei Sadami und Kissanke am Wami“ zu Ende. Irgendwann möchte Schultze die Geschichte der Spinnerei für eine Dauerausstellung aufbereiten, doch zuerst muss er sich um Gläser für die Vernissage am Abend kümmern. Und Sandro Porcu die Hand schütteln.

Der Künstler im Blaumann bringt schwungvoll sein Auto vor Haus 20 zum Stehen und reicht Schultze eine verblüffend echte Synthetik-Hand durchs Fenster. „Frisch aus der Theaterwerkstatt, voll plastiniert!“, schreit er begeistert. Sandro Porcu hat seit 1995 sein Atelier in Haus 14. Am 30. April, wenn die Spinnerei zur öffentlichen Werkschau einlädt, ist sein großer Tag, die erste Einzelausstellung in der Archivgalerie.

Porcu nimmt die Treppen zu seinem Atelier im zweiten Stock im Laufschritt. Bloß nicht stehen bleiben, das gesamte Gebäude ist unbeheizt und zugig. Per Tretroller fährt der Künstler durch eine leere Etage, wo der Putz in malerischen Stückchen blättert, zu einer kleinen Tür. Sein Atelier ist notdürftig mit einem Ofen beheizt, überall stehen weiß lackierte Gestänge und Gips-Körperteile. Das „Streichelbett“ ist noch nicht fertig, das „Instant Campfire“ kann er schon präsentieren. Eingeschweißte Holzscheite mit dem Bild eines küssenden Paars darauf und einer Schrift, die verspricht: „Romantic! No searching!“ Porcu spricht nicht gern über seine Arbeit, nervös nestelt er an den halbfertigen Objekten. „Das wird eine ganz wunderbare Einzelschau“, ermuntert Bertram Schultze und tätschelt noch einmal bewundernd die plastinierte Hand.

Zwei Etagen über Porcus Atelier residiert die „Stiftung Federkiel“. Der Vorsitzende Karsten Schmitz ist selbst Mitgesellschafter der Spinnerei und ein Verbündeter von Bertram Schultze, wenn es um Visionen für die Zukunft geht: In Halle 14 engagiert sich die Stiftung mit Ausstellungen und Symposien für den Kunststandort Plagwitz, den sie liebevoll „Pompeji der Leipziger Tieflandbucht“ nennen. Als Relikt der vergangenen Ausstellung „Xtreme Houses“ hängt ein brauner Kubus von der Außenfassade von Halle 14, das „Rucksack House“ des Münchner Architekten Stefan Eberstadt. Über die gelungene Symbiose von Alt und Neu freut sich Bertram Schultze. „Die Fassade hält das aus“, sagt er und lobt die zeitlose Schönheit und unverwüstliche Substanz der Backsteingebäude, um gleich darauf ein paar Jungs zu vertreiben, die mit Steinen die Fenster des ehemaligen Schulgebäudes traktieren. „Leerstand und Vandalismus sind die größte Gefahr hier“, sagt er. Auch die Massen partywütiger Jugendlicher, die einmal im Monat zu den „Bimbotown“-Partys kommen, setzen der Spinnerei zu. Doch der Erlebnispark aus beweglichen Skulpturen, den der britische Künstler Jim Whiting seit 2002 betreibt, ist auch die schrägste Attraktion im Haus. Schultze gerät ins Schwärmen, wenn er von den fahrenden Betten, hydraulisch zuckenden Sofas und schwebenden Mänteln berichtet, die das „Bimbotown“-Reich bevölkern. Es schade nichts, wenn neben den zumeist still und zurückgezogen arbeitenden Künstlern mal ein bisschen Leben in die Bude komme, findet Schultze.

Mittlerweile, nach einer Tour über das sechs Hektar große Gelände, ist Schultze durchgefroren und hungrig. Trotzdem lässt er es sich nicht nehmen, seinem jüngsten Neuzugang beim Einzug über die Schulter zu gucken.

Gerd Harry Lybke, der sich „Judy Lybke“ nennt, betreibt eine der international erfolgreichsten Galerien des Landes mit Sitz in Berlin und Leipzig. Für Lybke, selbst gebürtiger Leipziger, ist es logisch, EIGEN+ART an den Ort zu verlagern, an dem viele seiner Künstler bereits ansässig sind: in die Baumwollspinnerei. Bertram Schultze hat ihm Nummer 4 angeboten, das ehemalige Dampfmaschinenhaus. Dort diskutiert Lybke jetzt hingebungsvoll mit zwei Mitarbeiterinnen und einem Handwerker über Regalsysteme. Der neue Galerieraum ist doppelt so groß wie die Räume, die EIGEN + ART bisher im Stadtzentrum bespielte. Der Berlinerin Birgit Brenner wird die Ehre zuteil, die neue Galerie am 30. April mit einer Einzelschau ihrer verstörenden Erzähl-Installationen einzuweihen. Dabei hat EIGEN + ART in letzter Zeit vor allem mit Malern wie Neo Rauch, Tim Eitel und Martin Eder Furore auf dem Kunstmarkt gemacht. Lybke will die allgemeine Aufmerksamkeit jetzt bewusst auf „harte Brocken“ wie Birgit Brenner lenken: „Ich glaube an alle meine Künstler. So wie ich an Neo Rauch schon vor 10 Jahren geglaubt habe.“ Auch an die Baumwollspinnerei glaubt Lybke schon lange. Bertram Schultze hat in ihm einen prominenten Fürsprecher für seine Vision gefunden. „Seit Jahren organisiert Lybke regelrechte Touristenfahrten hierher“, lacht er. „Er schippert seine Gäste mit dem Boot über den Kanal, dann machen sie hier Halt und bekommen eine Kostprobe der Atmosphäre.“

Arbeitsam und familiär ist die Atmosphäre, die in der Spinnerei herrscht. Nach getanem Tagwerk treffen sich alle in der „Mule“ wieder, dem Café am Eingang. Lybke und Schmitz im Anzug, die Künstler in farbfleckigen Overalls. Bertram Schultze zieht den Mantel aus und bestellt sich die erste Mahlzeit des Tages: eine Linsen-Kokos-Suppe mit Brot. Dann erzählt er von seinem Zuhause, einem ehemaligen Wasserwerk, das er nach eigenen Plänen umgebaut hat. „Aber ich bin selten da“, sagt er und lacht. „Ich bin halt ein Spinner durch und durch.“

Eröffnung am 30. April, Infos: www.baumwollspinnerei.com; www.rundgang-kunst.de