Vom Außenseiter zum Büchermenschen

Saul Bellow, meditierender Metaphysiker, großer amerikanischer Erzähler und Nobelpreisträger, ist tot. Intellektuelle voller Skrupel und Hemmungen, die draufloserzählen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist – das sind die typischen Hauptfiguren seiner großen Romane. Er wurde 89 Jahre alt

VON GERRIT BARTELS

„Ich bin ein Amerikaner, geboren in Chicago – dieser finsteren Stadt – und gehe an die Dinge im Freistil heran, so wie ich es mir selbst beigebracht habe.“ Mit diesen Worten beginnt Saul Bellow seinen 1953 erschienenen Roman „Die Abenteuer des Augie March“, und in diesen Worten steckt eine Menge auch von Bellow selbst, der sowieso nie einen Hehl aus dem Biografischen seiner Bücher gemacht hat. Bellow wurde 1915 zwar im kanadischen Quebec als viertes Kind einer aus Russland stammenden Familie geboren, wuchs aber bald darauf in einem von osteuropäischen und jüdischen Einwanderern geprägten Viertel von Chicago auf und ging später in vielen seiner Romane die Dinge tatsächlich in einer Art Freistil an: erzählend, essayistisch, kolportagehaft, genauso philosophisch wie nicht selten populär und ohne Angst vor dem Trivialen.

Bellow war ein meditierender Metaphysiker, dessen ideelle und erzählerischen Wurzeln in der nicht mehr existierenden Welt des jüdischen Osteuropas lagen, aber auch ein stets genauer und zu philosophischen Reflexionen bereiter Beobachter der amerikanischen Lebensweise. Nach dem Studium der Anthropologie und Soziologie, ersten Schreibversuchen als Journalist und nachfolgenden Lehrtätigkeiten an verschiedenen amerikanischen Universitäten debütierte Bellow 1944 mit dem in Form eines Tagebuchs geschriebenen Roman „Mann in der Schwebe“, dem Porträt eines grüblerischen jungen Mannes, der in den Krieg eingezogen wird und der – ganz anders als die zu der Zeit populären kraftstrotzenden, stoischen Helden eines Ernest Hemingway – voller Selbstzweifel steckt und in einer schwebenden Position von Nicht-mehr-Zivilist und Noch-nicht-Soldat über den Sinn des Lebens und die Fadenscheinigkeit der amerikanischen Freiheitsversprechen zu räsonnieren beginnt.

Nach einem weiteren eher introvertierten Buch, „Das Opfer“, beginnt Bellow schließlich stilistisch zu experimentieren und sich zu entfalten. In „Die Abenteuer von Augie March“ lässt er seine Hauptfigur draufloserzählen, wie dieser der Schnabel gewachsen ist, im Gossenjargon genauso wie in der Sprache der Hochkultur. Da entwirft Bellow eine ereignisreiche Romanhandlung, in die eine Vielzahl von Personen verstrickt ist und die Augie March aus den Slums von Chicago über Mexiko bis in das Europa des Zweiten Weltkriegs führt, und dabei ist es ihm trotz allem immer darum gelegen zu erzählen, wie ein Junge mit osteuropäisch-jüdischem Hintergrund zu einem lupenreinen Amerikaner wird.

„Augie March“ ist ein üppiger, überbordender Roman, mit dem Bellow nicht nur seinen Stil und sprachlichen Durchbruch geschafft hatte – in der Entwicklung des Augie March vom sozialen Außenseiter zum Büchermenschen war hier auch die für die nachfolgenden großen Bellow-Romane typische Figur angelegt: die des heimatlosen, meist jüdischen Intellektuellen, entweder Professor oder Literat, der in endlose Monologe und Selbstgespräche verstrickt ist, der voller Skrupel und Hemmungen ist und der im modernen amerikanischen Großstadtleben nur unter größten Schwierigkeiten zurechtkommt. Herzog heißt der eine, Hauptfigur in Bellows vielleicht bestem, populärstem und erfolgreichstem Roman „Herzog“, Humboldt der andere, der Bellow 1976 den Literaturnobelpreis verschaffte (mit „Humboldts Vermächtnis“), Mr. Sammler ein weiterer, dann schon älterer Herr (in „Mr. Sammlers Planet“).

Sie alle haben Probleme mit ihrer Umwelt, die sie denkend und mit teilweise brillanten, teilweise plattesten Reflexionen in den Griff zu bekommen versuchen, und mit den Frauen natürlich auch. Am Ende geht es ihnen allen wie Herzog, der auf die selbst gestellte Frage, was er sich denn um alles in der Welt am meisten wünsche, antwortet: „Das ist es ja eben – nichts in der Welt. Ich bin’s durchaus zufrieden zu sein, zu sein, wie es gewollt ist, und für so lange, wie ich Wohnrecht habe.“

Komischerweise schien auch Bellow dann zufrieden zu sein, schien ihn vielleicht auch der Nobelpreis eher zu lähmen als zu motivieren. Anders als etwa sein Landsmann und Bewunderer Philip Roth lief Saul Bellow im höheren Alter nicht mehr zu Höchstform auf, waren seine wenigen in den Achtziger- und Neunzigerjahren erschienenen Bücher eher blasse Variationen seiner großen Werke.

In seinem letzten Roman, dem 2001 veröffentlichten Roman „Ravelstein“, einer kaum verhüllten Biografie des 1992 verstorbenen Bellow-Freundes, Kollegen und Chicagoer Philosophieprofessors Allan Bloom, brachte Bellow jedoch die Crux all seiner Helden, ihr Problem mit der Bildung – wie wenig sie letzten Endes auszurichten vermag, wie viel sie ihnen trotz allem aber bedeutet –, noch einmal auf den Punkt: „Früher einmal hatte es in unserem Land eine bedeutsame literarische Gemeinschaft gegeben, zählten Medizin und Jura noch zu den ‚gebildeten‘ Berufen, doch kann man heute in einer amerikanischen Stadt keine Ärzte, Anwälte, Geschäftsleute, Journalisten, Politiker, TV-Moderatoren, Architekten oder Einzelhändler erwarten, die sich über Romane von Stendhal oder die Gedichte von Thomas Hardy unterhalten […]. Besser, man geht in Begleitung von Anna Livia Plurabelle in die Ewigkeit ein als mit den Simpsons, die über den Bildschirm zappeln.“ Am Dienstag ist Saul Bellow in seinem Haus in Brookline/Massachusetts im Alter von 89 Jahren gestorben.