Am Anfang flogen nur Schoko-Bonbons

Erst schlägt er und tritt er, dann will er sein Opfer retten: Ein Gothic-Fan greift einen Schüler mitten in der Münchner Innenstadt an, mit tödlichen Folgen. Dabei fallen auch rassistische Sprüche. War wirklich alles nicht so gemeint, wie die Polizei glaubt?

AUS MÜNCHEN JÖRG SCHALLENBERG

Eigentlich sei es alles nur eine alltägliche Streiterei unter Jugendlichen gewesen. Sagen Zeugen, sagt die Polizei. Während einer S-Bahn-Fahrt zwischen dem Münchner Hauptbahnhof und dem Stachus gab es ein Wortgefecht, dann flogen ein paar Schoko-Bonbons, schließlich eine Faust. Jetzt ist Marcel S., 17, tot. Ihn traf die Faust, am Mittwoch starb der Schüler nach sieben Tagen im Koma an den Folgen einer Gehirnblutung – und es stellt sich die Frage: Worum ging es bei der Auseinandersetzung, die sich auf einem belebten Bahnhof in der Münchner Innenstadt abspielte, unter dem Karlsplatz, an dem sich der Justizpalast und ein Edelhotel gegenüberliegen?

Der Ablauf ist nach Aussagen mehrerer Zeugen eindeutig zu rekonstruieren: Am Mittwochabend vor einer Woche ist Marcel S. zusammen mit anderen Jugendlichen, darunter seine Freundin, mit der S-Bahn in Richtung Ostbahnhof unterwegs. Am Hauptbahnhof steigen vier junge Männer und Frauen zwischen 19 und 23 Jahren ein, die äußerlich der Gothic-Szene zuzurechnen sind. Laut Polizeiangaben trägt etwa der 19-jährige Markus L., der kurz darauf zuschlagen wird, schwarze Kleidung und hat sich das Gesicht weiß geschminkt.

Der Streit entsteht offenbar, weil ein Begleiter von L. die asiatisch aussehende Freundin von Marcel S. als „Frühlingsrolle“ tituliert und beschimpft. Marcel S. verteidigt seine Freundin, ein heftiger Wortwechsel entbrennt. Am Stachus, eine Station später, steigen die Gothics wieder aus. Markus L. bewirft dabei Marcel S. mit Bonbons – der hebt eines auf und wirft zurück. Darauf rennt der 19-Jährige wutentbrannt auf den Schüler los, schlägt ihn mit einem Fausthieb zu Boden. Marcel S. prallt mit dem Kopf gegen einen Metallkasten, außerdem soll ihn Markus L. laut Zeugen mit einem Stiefel gegen den Kopf getreten haben. Als er sieht, dass sein Opfer bewusstlos ist, versucht der Schläger den 17-Jährigen per Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben. Doch es ist zu spät.

Nachdem der Tod des Schülers bekannt geworden ist, verkündet man bei der Polizei schnell, die Auseinandersetzung habe keinen „fremdenfeindlichen Hintergrund“. Ein Sprecher sagte der taz auf Nachfrage, dass der Täter, der in Untersuchungshaft sitzt, „kein Rassist“ sei. Die Beleidigungen des asiatisch aussehenden Mädchens seien Zufall gewesen: „Hätte sie eine zu große Nase gehabt, dann wäre sie vielleicht auch verspottet worden.“ Obwohl die Polizei zudem die Tritte gegen den Kopf bestätigt, wertet der Leiter des Münchner Mordkommissariats, Josef Wilfling, die Tat in der Lokalpresse als „nicht besonders intensiv und brutal, der Täter wollte die Folgen nicht“. Was letztlich zum Tod des Schülers führte, soll die Obduktion klären.

Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass Angehörige der Gothic-Szene in München auffallen: Ende März lieferten sich mehrere Schwarzgekleidete an der Isar eine Messerstecherei mit Punks, es gab mehrere Verletzte. Einen Gothic-Anhänger musste die Polizei mit vorgehaltener Waffe zwingen, sein Messer wegzuwerfen. Ein Zusammenhang zwischen dieser blutigen Auseinandersetzung und dem tödlichen Streit in der S-Bahn besteht laut Polizei „absolut nicht“.

Tatsächlich gelten die Gothics mit ihrer Vorliebe für düstere Musik und möglichst auffällige, nachtschwarze Aufmachung im Vergleich zu anderen jugendlichen Subkulturen als wenig gewaltbereit. Allerdings beobachten Jugendforscher wie auch Angehörige der Szene selbst schon seit Jahren mit Besorgnis den Einfluss von Rechtsextremisten. Berührungspunkte zwischen den sehr gegensätzlich scheinenden Gruppen existieren, etwa bei der Vorliebe mancher Gothics für das Heidentum der Germanen, für Esoterik oder für martialische auftretende Bands wie „Von Thronstahl“. Auch dunkle Kultbands wie „Death in June“ sympathisierten offen mit Nazi-Gedankengut und brachten auf CDs schon mal das „Horst-Wessel-Lied“ als „hidden track“ unter.

Ob Markus L. zugeschlagen hat, weil er zur Gothic-Szene gehörte, ist am Ende schwer zu beurteilen. Merkwürdig erscheint jedoch, dass die Polizei den Tod eines Jugendlichen nach rassistischen Sprüchen so schnell als ganz normale Streiterei abtut.