Neue nationalistische Hysterie in der Türkei

Seit dem kurdischen Neujahrsfest wächst der Hass auf „Separatisten“ – bis zu Lynchversuchen an Unbeteiligten

ISTANBUL taz ■ In der Stadt Trabzon am Schwarzen Meer hat die türkische Polizei am Mittwoch im letzten Moment gerade noch verhindern können, dass eine aufgebrachte Menge, vier junge Leute, die sie fälschlicherweise für Anhänger der verbotenen PKK hielt, zu Tode prügelte. Die zwei Männer und zwei Frauen wollten auf dem zentralen Platz der Stadt Flugblätter zur Unterstützung hungerstreikender Gefangener der linksextremistischen DHKP-C verteilen, als ein Verkehrspolizist sie sah und von dort verscheuchen wollte. Es kam zu einer Rangelei, die zu einem Menschenauflauf führte, in dem plötzlich die Parole die Runde machte, die vier hätten versucht, mitten in Trabzon eine Fahne der PKK aufzuhängen. Seit dem kurdischen Neujahrsfest (Newroz) am 20. März, als Jugendliche während einer Demonstration in Mersin versuchten, die türkische Fahne zu verbrennen, trommeln die Nationalisten der Türkei gegen die „kurdischen Separatisten“. Als Zeichen des Protests gegen die Fahnenverbrennung hängen nun millionenfach türkische Fahnen aus Wohnungen und Geschäftshäusern.

Deshalb wirkte das Gerücht, „kurdische Terroristen“ würden erneut versuchen, „die Fahne zu schänden“, wie ein Funke im Benzintank. Ein aufgebrachter Mob strömte auf den Platz, um die vermeintlichen Terroristen zu lynchen. Mit größter Mühe ging die Polizei mit einem gepanzerten Fahrzeug dazwischen und zerrte die vier hinein. Die Menge versuchte den Wagen aufzuhalten, einige sprangen sogar auf das Dach des Autos. Selbst anschließend versammelten sich noch rund 2.000 Leute vor der Polizeiwache und skandierten: „Türkiye, Türkiye“.

Die nationalistische Hysterie wird zusätzlich angefacht durch eine Intensivierung der Kämpfe zwischen PKK und der Armee im Südosten des Landes. Politische Führer der kurdischen Bewegung wie Leyla Zana haben sich zudem während der Newroz-Feiern betont uneindeutig zu den Angriffen von PKK-Kommandos verhalten. Eine Aufforderung des deutschen Botschafters, sich klar von Gewalt zu distanzieren, beantwortete Zana mit einer Presseerklärung, sie habe schon oft genug gesagt, dass Gewalt nicht hilfreich sei.

Die Regierung in Ankara, einschließlich Ministerpräsident Tayyip Erdogan, sehen der Entwicklung bislang tatenlos zu. Dabei ist die nächste Eskalationsstufe schon absehbar. In Kürze will der europäische Menschenrechtsgerichtshof seine Entscheidung über eine Klage des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalans bekannt geben. Sollte das Gericht fordern, dessen Prozess zu wiederholen, steht die Regierung vor einem ernsthaften Dilemma. Weigert sie sich, gehen die Kurden auf die Barrikaden, gibt sie der Aufforderung statt, wird die nationalistische Welle immer höher schlagen.

JÜRGEN GOTTSCHLICH