Kabul darf nicht Chicago werden

Ist der Islamismus nichts weiter als eine neue Form des „Hasses auf den Westen“? Ian Buruma und Avishai Margalit sehen das so – in ihrem Essay „Okzidentalismus“

Als Ian Burumas und Avishai Margalits Essay „Okzidentalism“ vor drei Jahren in der New York Review of Books erschien, pfiff schnell eine kleine Debatte durch den globalen Feuilletonistenwald. Nur wenige Monate nach den Anschlägen vom 11. September stellten Buruma, der niederländisch-britische Essayist, und Margalit, der Philosoph aus Jerusalem, den rabiaten Islamismus in eine größere, historische Perspektive des „Hasses auf den Westen“: Feindseligkeit gegen den Geist des Westens, gegen Rationalismus, gegen den Krämergeist des Bürgertums und die Wurzellosigkeit der Stadt, schließlich gegen die Seelenlosigkeit des Agnostikers – dies verbindet, so Buruma und Margalit, den Islamismus mit historischen Erweckungsbewegungen, aber auch mit der deutschen Romantik, mit japanischen Antiwestlern und slawophilen Volkstümlern, Maos Bauernkommunismus, mit gewissen Spielarten der Globalisierungskritik und esoterischen Seelenfreaks aller Art.

Ein origineller Blick, während alle vom Kampf der Kulturen sprachen, denn für Buruma und Margalit ist der Okzidentalismus, also der Hass auf den Geist des Westens, etwas, was im Orient wie im Okzident zu finden ist. Hier kann man lesen, was den Rechtsradikalen, aber auch den linken Antiimperialisten und einen Islamisten-Imam eint.

Jedenfalls setzte es, als das Buch erschien, viel Applaus und auch ein paar Nörgeleien: Was die beiden da aufstellten, sei eine neue Totalitarismustheorie, nicht alles, was ähnlich ist, ist deshalb gleich. Der Okzidentalismus, verteidigte Buruma vergangenes Jahr im taz-Interview seine Thesen, „hat europäische Wurzeln. Feindschaft gegen die Aufklärung, faschistische Ideen, die Auffassung, der Westen sei dekadent, feige, materialistisch“.

Es brauchte zwei Jahre, bis Buruma und Margalit ihren schlanken Essay zu Buchform ausführten, noch ein weiteres, bis er nun auch auf Deutsch vorliegt. Ein Handicap, doch gerade die Kapitel über die okzidentale Stadt, den Hass auf die Metropole, deren Künstlichkeit, die babylonische Tempelhure und den Krieg gegen die Stadt, sowie jenes über Helden und Händler, dieses kulturromantische Naserümpfen über die westliche Zivilisation, die das Geschäft über den Krieg stellt, sind mehr als lesenswert. In West und Ost, Süd wie Nord wird der Westen in gewissen Kreisen als Gift gesehen, das Muskelkraft, Willen und Charakter lähmt – Westoxification – , das alles Streben auf die bare Münze und die billige Vergnügung lenkt.

Freilich: Die hart zugeschlagene These gehört zum Essayisten-Geschäft, doch sie hat auch ihren Preis. Ist das wirklich so, dass der, dem Branding, Kommerzialisierung und Big-Brother-TV aufstößt, deshalb gleich in einer Geistestradition steht, die von Herder über Heidegger bis Mao und Ussama reicht? Nur weil man es vielleicht schade findet, wenn das Traditionscafé der Shopping Mall weicht? Weil man Leute, die Songtexte schreiben, interessanter findet als die stromlinienförmigen S-Klasse-Menschen in ihren Glas-Stahl-Beton-Büros?

Ich weiß nicht recht.

Aber nochmals: Es ist die Stärke dieses schmalen Bandes, dass seine Autoren nicht von falscher Scheu geplagt sind, zu weit zu gehen, zu überziehen.

ROBERT MISIK

Ian Buruma, Avishai Margalit: „Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde“. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Carl Hanser Verlag, München 2005, 160 Seiten, 15,40 Euro